SCHÖNHAUSER ALLEE

Heile Welt und Hassobjekt

von Rachel Marks / Übersetzung von Julia Cornelius

Ankunft in der tunnelartigen Ringbahnstation Schönhauser Allee: Reichlich Graffiti an den Wänden, Pappbecher und zerbrochene Flaschen zwischen den Gleisen, die hohen Außenwände halten die Stadt fern. Der Bahnhof ist nie wirklich leer: Im Morgengrauen kommen die Pendler aus den nördlichen Vorstädten, ihren Kaffeebecher fest umklammert; mittags bewegt sich ein Fuhrpark aus Einkaufstrolleys, Kinderwagen und Rentner-Rollatoren durch die Station; in der Abenddämmerung sammeln sich Gruppen jeder Couleur, die das Quartier auf einen Drink, einen Happen oder ein Pfeifchen beehren.

Überragt wird die Station dort, wo sich Ringbahn und U-Bahn treffen, von einem mehrstöckigen Shopping-Center im Durchschnittslook. Dieser Koloss aber und sein neonfarbener Bruder gegenüber erscheinen nur als beiläufige Ausbuchtungen in der umgebenden Stadtlandschaft, als relativ harmlose Anomalien.

Wenig verrät, dass oberhalb des Bahnsteigs eines der umstrittensten Viertel Berlins liegt: Der Prenzlauer Berg. Es sei eingeräumt, dass mehrere Ringbahnstationen innerhalb von Prenzlauer Berg liegen, aber es sind Ecken wie diese hier, die symbolisch attackiert werden, wenn irgendwo in Berlin eine Nobelkarosse in Flammen aufgeht, Graffitis die Schwaben aus der Stadt kommandieren und Bio verspottet wird.

Verläßt man den Bahnhof in südöstlicher Richtung, sind die Zeichen der neuen Zeit unübersehbar: Renovierte Jahrhundertwendebauten an schmalen, baumgesäumten Straßen; ein Edelwäscheladen, handgemachte Keramik aus Japan, ein Weinbistro, schwule Bars, Hetero-Bars; türkische, vietnamesische, amerikanische Restaurants, Pizzaläden, Spielzeuggeschäfte; Brunch-, Lunch- und Nachmittagscafés. Genug, um Touristen für ein paar Stunden zu unterhalten, dabei aber so wohnlich und anheimelnd, dass es als abseits vom Touristenrummel liegend gelten darf.

In einem Land mit massivem Bevölkerungsschwund, zum Teil haarsträubenden Arbeitslosenzahlen, in einer Stadt, die sich nicht aus ihrer Malaise befreien zu können scheint, mag ein Besucher die geschäftigen jungen Mütter in Prenzlauer Berg – Coffee in der einen, den teuren Kinderwagen in der anderen Hand und das Blackberry elegant zwischen Kinn und Schulter balancierend – nicht als niederträchtige Unheilsbotinnen wahrnehmen.

Aber die Berliner wissen es besser. Der Prenzlauer Berg wurde zum Inbegriff der Gentrifizierung mitsamt einer durchweg negativen Konnotation. Der Stadtteil habe sich „liften" lassen, so der Vorwurf, bis von seiner bewegten Geschichte nichts mehr sichtbar blieb, und niemand könne dies gutheißen ­– außer den Investoren. Die heutigen Kiez-Bewohner assoziieren die Kirche in der Gethsemanestraße keineswegs mehr mit der Oppositionsbewegung der DDR oder die umliegenden Straßen mit Ostberliner Subkultur, und jedermann glaubt zu wissen, dass die alten Bewohner vor den explodierenden Mieten und den neuen kulturellen Normen geflohen sind. Was sich heute kaum noch jemand vorstellen kann (oder zugeben mag!): Viele Ostberliner haben ihr heruntergekommenes Viertel nach der Wende für Innenklos, Zentralheizung und schimmelfreie Wände in schon sanierten Häusern oder Neubauwohnungen nur allzu gern verlassen, und erst die Zugereisten entwickelten einen Sinn für die Ruinenromantik des vernachlässigten Bezirks.

Der Prenzlauer Berg – seine aus aller Welt importierten Bewohner und die mit ihnen gekommenen Geschmäcker und Preise – definiert Berlin neu. Die soziale Umwälzung des letzten Jahrzehnts war enorm, Schätzungen zufolge sind rund 80 Prozent der Bewohnerschaft aus Vorwendezeiten weggezogen. Heile Welt für die einen, Hassobjekt für andere – Enklaven wie diese, verborgen hinter den Mauern der Station Schönhauser Allee, sind typisch für Berlin und tragen zum Verständnis einer Stadt bei, die ihre Dynamik seit über einem Jahrhundert den Zuwanderern verdankt. Und diese Immigration nun, weitgehend von Akademikern und gut betuchten Kreativen aus Westdeutschland und anderen Hauptstädten der westlichen Welt getragen, mag eine neue Ära markieren.

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