GREIFSWALDER STRASSE

Wo Ernst Thälmann das Dritte Reich grüßt

von Gernot Schaulinski

Einst hielt die Ringbahn an der Station „Weißensee", seit 1946 stiegen die Reisenden an der „Greifswalder Straße" aus, ab Mitte der 80er Jahre hieß der Bahnhof „Ernst-Thälmann-Park", bis man ihn 1993 wieder umtaufte. Der Wandel ist den Blechschildern nicht anzusehen – wenn doch der Bahnsteig erzählen könnte. Von hier aus schweift der Blick zu den großen braunen Plattenbaukästen im Südwesten. Die sechs Schienenpaare des nahen Güterbahnhofs wirken wie ein weiter Graben, der diese monumentalen Spielbausteine in der Ferne unerreichbar erscheinen lässt.

Tiefe Einblicke in das vielfältige Leben der Umgebung gewährt der offene Hof eines Wohnhauses auf der anderen Bahnsteigseite. Die Balkone sind ganz unterschiedlich gestaltet – das Spektrum reicht von der rein praktischen Nutzung fürs Aufhängen der Wäsche bis zum luftigen Wohnzimmer mit der urigen Sitzgruppe.

Die Greifswalder Straße ist Teil der Berliner Radialstraßen, die vom historischen Stadtkern nach Norden und Osten ins Umland streben. Auf ihrem Weg vom Zentrum auswärts führt sie gleich zu Beginn am Volkspark Friedrichshain vorbei: Hinter dem Märchenbrunnen öffnet sich eine grüne Oase abseits des Großstadtgewimmels. Weiter geht es durch den Prenzlauer Berg mit seinen idyllischen Altbaustraßen, den individuellen Läden und der Einwohnerschaft von „Kreativen". In der Ferne wird schon die Ringbahnbrücke sichtbar, und wir kehren zurück auf den Boden des Bahnsteigs.

Nur wenige Minuten Fußwegs entfernt liegen zwei architekturgeschichtlich bedeutende Stadtquartiere. Südlich der Station befindet sich zwischen Greifswalder und Kniprodestraße die „Grüne Stadt", eine der größten Wohnsiedlungen des „Dritten Reiches". Mit spärlichem altdeutschen Dekor und Walmdach versehen, sollten die Gebäude „Ausdruck anständiger Baugesinnung" sein. Die Ausstattung der Wohnungen blieb allerdings weit hinter den Standards der Weimarer Republik zurück. Der letzte Bauabschnitt brannte im Frühjahr 1945 aus und hieß fortan im Volksmund „Tote Stadt", bis die Siedlung fünf Jahre später unter sozialistischer Obhut fertig gestellt wurde.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Greifswalder Straße grüßt Ernst Thälmann in Bronze erstarrt zu den NS-Bauten herüber. Die von sowjetischer Künstlerhand geschaffene Großplastik ist Teil eines ausgedehnten Bau-Ensembles der 80er Jahre.

Ursprünglich befand sich auf dem Gebiet eine Gasanstalt, die von 1874 bis 1981 in Betrieb war und den Brennstoff für die Berliner Gaslaternen lieferte. Nach dem Abriss des letzten Gebäudes im Jahre 1984 nutzte die DDR-Regierung das Terrain für eines ihrer größten und auch letzten Prestigeprojekte: Modernste Wohnungen, Einkaufsmöglichkeiten, Sport- und Kultureinrichtungen, ein Planetarium und Parkflächen mit einem künstlichen Teich – der „Ernst-Thälmann-Park" präsentierte eine heile Welt der Diktatur. Eingeweiht wurde die Wohnsiedlung 1986 anlässlich des 100. Geburtstags ihres Namensgebers, der als Vorsitzender der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) zur Zeit der Weimarer Republik agitierte und 1944 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde. Sein Bildnis mit der zum Gruß gereckten Faust stand an der Einfallstraße der SED-Politprominenz, die jeden Morgen aus ihrem Regierungswohnviertel Wandlitz über die „Greifswalder" ins Stadtzentrum fuhr. Ob Honecker wohl zurück grüßte? Heute haben die Sprayer das Monument für sich erobert – der Kampf gegen eine engagierte Rentner-Putztruppe aus dem Quartier scheint gewonnen. So werden die Zeugnisse der Vergangenheit mit immer neuen Schichten übermalt, gleich den Stationsschildern an der Greifswalder Straße.

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