HERMANNSTRASSE

Ewige Ruhe und das Leben drum herum

von Max Bach / Übersetzung von Julia Cornelius

Als er 1899 eröffnet wurde, lag der Bahnhof Hermannstraße weit vor den Toren Berlins, heute findet man ihn im Herzen des Stadtteils Neukölln. An der gleichnamigen Hauptstraße, die hier über die Ringbahn führt, reihen sich insgesamt acht Friedhöfe aus dem 19. Jahrhundert. Diese Ansammlung von Gottesäckern war für die Entfaltung des Viertels nicht hinderlich; um die Inseln des Jenseits herum füllte sich die anfangs ländliche Gegend rasch mit städtischem Leben.

Fast hundert Jahre nach seiner Einweihung wurde der Bahnhof 1992 unter die Hermannstraßenbrücke versetzt, oder besser: dort "begraben“. Die ehemals im Design der Siebzigerjahre gestalteten Eingänge präsentieren sich heute in schrillem Blau und Grün, um der Bedeutung dieses Verkehrsknotenpunktes, an dem S- und U-Bahn aufeinander treffen, farblich Ausdruck zu verleihen. Diese durchaus deplatzierte, veraltete und dabei kraftvolle Optik bildet einen markanten Gegensatz zum farblosen Hermannquartier, dem an die U-Bahnstation angebundenen Einkaufszentrum. Nicht weit von hier befinden sich die Nekropolen der Moderne.

Durch den rasanten Bevölkerungszuwachs Berlins in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg nicht nur der Bedarf an Wohnraum, sondern auch an Begräbnisstätten. Die kleinen Kirchhöfe im Zentrum reichten nicht mehr aus; vor dem Kottbusser Tor südlich der Stadt legten die Gemeinden deshalb weitere Gottesäcker an. Die Felder und Wiesen konnten günstig erworben werden und waren über eine Landstraße – die Hermannstraße – gut zu erreichen. Die neuen Friedhöfe zeigen allesamt einen ähnlichen Aufbau: lang gestreckte, schmale, rechteckige Grundstücke, die mit einer baumgesäumten Allee von der Straße abgehen. Mit dem schnellen Wachstum Berlins wurden die ehemals vor den Toren gelegenen Ruhestätten bald Teil der Stadt.

Nördlich des Bahnhofs liegen drei Friedhöfe auf der Westseite der Hermannstraße. Ein Spaziergang von der Station aus führt zunächst auf den St. Jacobi-Kirchhof, dessen Gräber sich vor allem in der Nähe des Eingangs befinden, während die hinteren zwei Drittel des Friedhofs wie ein verwildertes Stück Land anmuten; hier und da verstreute Gräber, kaum eines älter als 40 Jahre. Von den wirklich alten Grabstätten, die man auf einem Friedhof des 19. Jahrhunderts erwartet, sind nur wenige erhalten. Dazu zählen die stattlichen Familiengräber auf der Südseite, die vielfach in die angrenzenden Wohnhäuser integriert wurden.

Weiter zum Kirchhof Jerusalems- und neue Kirche V. Ein Denkmal erinnert an die rund einhundert Zwangsarbeiter vorwiegend aus der Ukraine, die hier in den letzten Jahren des 2. Weltkriegs mit dem Segen der Kirche in Baracken untergebracht waren, um die Opfer der Bombenangriffe zu beerdigen und den Friedhof in Ordnung zu halten. Ein Streifzug bis zum Ende des Geländes führt an zerbrochenen Grabsteinen und schmucklosen Erdhügeln vorbei.

Unmittelbar nördlich liegt St. Thomas, der 2007 geräumt wurde. Obwohl das Tor fest verschlossen ist, ein großes Schild Privatbesitz anzeigt und den Durchgang verbietet, entdeckt man auf dem verwilderten Grundstück doch Spaziergänger, die meisten in Begleitung ihres Hundes. Die Suche nach dem Knochen dürfte hier lohnen. Das Gelände ist, ebenso wie das der Jerusalemer und der Neuen Kirche, mit Signalleuchten gespickt, die einst zur Orientierung der Piloten dienten – Flugsicherheit im Angesicht des Todes.

Südlich der Ringbahngleise liegt der größte Friedhof der Hermannstraße, der Emmaus-Kirchhof. Einen lebendigen Kontrast zu Grabsteinen und Urnenfeldern bieten die Schulen, Sportanlagen, Vereinsheime, Kinderhorte und ein Therapiezentrum für Jugendliche in einer alten Ziegelwäscherei.

Die Hälfte der Friedhöfe in der Hermannstraße ist als Gartendenkmal geschützt, Nachbarschaftsinitiativen setzen sich dafür ein, sie in Parks umzuwandeln. Damit würde offiziell, was Anwohner und Besucher längst praktizieren: die Nutzung dieser kulturhistorischen Biotope als Naherholungsgebiet in einem der am dichtesten besiedelten Viertel Berlins.

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