HEIDELBERGER PLATZ

Altdeutsche Romantik unter der Stadtautobahn

von Gernot Schaulinski

In Berlin wurde Heidelberg weltberühmt. Zuvor schon hatten Dichter der deutschen Romantik die liebliche Stadt im Badischen besungen, am 22. November 1901 feierte nun das Herz-Schmerz-Schauspiel „Alt-Heidelberg“ am Berliner Theater in Kreuzberg Premiere. Damit begann eine Erfolgsgeschichte, die den Namen der Neckarstadt international zum Synonym für ein romantisch verklärtes Deutschlandbild machte. Zwar fielen die späteren Kommentare von Geistesgrößen wie Bertolt Brecht („Saustück“), Alfred Döblin („Leierkasten“) und Kurt Tucholsky („alter Schmachtfetzen“) alles andere als positiv aus, doch „Alt-Heidelberg“ wurde zu einem der meistgespielten deutschen Theaterstücke, machte als Operette Karriere am Broadway und wurde zur Pflichtlektüre japanischer Deutschstudenten. Ist von dieser Idealisierung etwas zu spüren an der Ringbahnstation mit dem wohlklingenden Namen?

Der heutige Heidelberger Platz ist vor allem ein Verkehrsknotenpunkt im wahrsten Sinne des Wortes: vom Bahnsteig führen die Aufgänge hinauf zur breiten Mecklenburgischen Straße, die von der Stadtautobahn A100 überbrückt wird; unterirdisch kreuzt die U-Bahnlinie 3. In Richtung Autobahn befindet sich das alte Empfangsgebäude von 1892, das mittlerweile den Dancefloor einer Diskothek beherbergt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße glänzt das Leuchtschild einer Autowaschanlage, die beliebter Treffpunkt für Mitfahrgelegenheiten nach Heidelberg und ganz Deutschland ist. Durch das Zusammentreffen vieler öffentlicher Verkehrsmittel an der Auffahrt zur A 100 eröffnen sich hier beste Abreisemöglichkeiten aus Berlin. Der unmittelbar darunter liegende U-Bahnhof von 1913 nimmt als neoromanischer Prachtbau erkennbar Bezug auf den deutschen Sehnsuchtsort. Eine Reihe monumentaler Rundsäulen aus Granit trägt das doppelte Kreuzgratgewölbe, an den Bahnsteig-Enden befinden sich mosaikgeschmückte Vorhallen, und auch die Großaufnahmen des heutigen Heidelbergs vermitteln das Klischee von „Good Old Germany“. Zwar lagern hier unten keine Eichenholzfässer, trotzdem könnte die Atmosphäre Passanten in badische Weinseligkeit verfallen lassen.

Der Heidelberger Platz bildet die Nordspitze des bürgerlichen Rheingauviertels, in dessen Zentrum der Rüdesheimer Platz mit seinen Bauten im „englischen Landhausstil“ liegt. Das seit 1910 vom Baulöwen Georg Haberland angelegte Quartier ist ein typisches Beispiel für die Bautätigkeit der privaten Terraingesellschaften. Seit den 1860er Jahren schufen sie im damaligen Berliner Umland städtische Infrastrukturen und entwickelten die lukrativen Neubaugebiete weiter, bis diese in der Hauptstadt aufgingen. Die Wohnsiedlung im Rheingauviertel gilt als vorbildliche Frühform aufgelockerter Bauweise im Grünen. Südwestlich der Ringbahnstation finden Besucher entlang der Schlangenbader Straße ein ambitioniertes Bauprojekt der ganz anderen Art: die „Schlange“ – Deutschlands größtes Wohnhaus ist ein architektonisches Unikat. Der von 1976 bis 1982 errichtete Gebäuderiegel enthält auf 600 Metern Länge neben 1.046 terrassenförmig angelegten Wohnungen auch eine Autobahn. Hier wurde eine lang gehegte Zukunftsfantasie der Stadtplaner und Architekten Wirklichkeit. In der autofixierten Nachkriegsmoderne mit ihrem rasant wachsenden Individualverkehr waren solche Projekte vielfach im Gespräch. Heute ist das Gebäude nur noch Anwohnern und Fachleuten ein Begriff und weltweit das einzig realisierte Projekt seiner Art.

Der Heidelberger Platz und seine Umgebung lassen baulich keinen Bezug zur süddeutschen Namensgeberin erkennen; der schmückende Titel ist ein Produkt des damaligen Zeitgeschmacks mit der Bevorzugung „teutscher“ Motive. Heidelberg finden Besucher allenfalls unter der Erde wieder, dort wo die U 3 durch einen Weinkeller ohne Fässer rollt. So begraben wünschte sich auch Kurt Tucholsky den überromantisierten Ort der Deutschtümelei, als er 1928 in der Zeitschrift Die Weltbühne spottete: „Denn der schönste Platz, der hier auf Erden mein / das ist Heidelberg in Wien am Rhein [...].

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