WESTKREUZ

Großer Bahnhof im Niemandsland

von Sven Olaf Oehlsen und Mathis Sommer

Aussteigen, einsteigen und nur nicht stehen bleiben – am Westkreuz herrscht immer Bewegung. Obwohl die Umgebung des Bahnhofs fast menschenleer ist, strömen im Inneren die S-Bahnnutzer zwischen den Zuglinien hin und her.

Die Ring- trifft hier auf die Stadtbahn, die als bedeutende Ost-West-Verbindung Ende des 19. Jahrhunderts auf einem charakteristischen Backsteinviadukt durch Berlin und seine Vorstädte geführt wurde. Auf ihren vier Gleisen verkehren bis heute sowohl Fernzüge als auch mehrere S-Bahnlinien entlang der wichtigsten Bahnhöfe Berlins; außerhalb des Rings gelangt man vom Westkreuz zum Olympiastadion und weiter nach Spandau oder zur Sommerfrische an den Wannsee und von dort bis nach Potsdam; kurzum: nach „Jott-wee-dee“ („janz weit draußen“).

Die Umsteigemöglichkeit zwischen den sich kreuzenden Strecken besteht seit 1928, zuvor bogen die Stadtbahnzüge auf die Ringbahn ein und endeten im Westend. Anlass für die Stationseröffnung unter dem Namen „Ausstellung“ war der Baubeginn des Berliner Messegeländes, das seither jedes Jahr Millionen von Besuchern anzieht. Der großzügige Bahnhof mit seinem expressionistischen Empfangsgebäude aus Backstein wurde von Richard Brademann entworfen, der sich in den folgenden 30er Jahren als S-Bahnarchitekt einen Namen machen sollte. Das neue Ausstellungsgelände wuchs schnell und rückte näher an andere Bahnhöfe heran, die vom Publikum stärker genutzt wurden. Nach der Stationsumbenennung in „Westkreuz“ 1932 diente das frühere Tor zur Berliner Messe nur noch als reiner Umsteigebahnhof. So ist es bis heute geblieben – trotz der Nähe zu Funkturm und Internationalem Congress Center (ICC).

Zwar kann man die helle Bahnsteighalle über eine Treppe am nördlichen Ende verlassen, doch eingeschnürt von Gleisen und Stadtautobahn scheint das Umfeld eine sinnvolle Bewegung per Pedes kaum zuzulassen. An Stelle des Empfangsgebäudes gähnt heute die asphaltierte Leere eines Parkplatzes; da der Bahnhof auf Sumpfland gebaut worden war, gerieten die Anlagen mit den Jahren aus dem Lot und konnten trotz erheblicher Anstrengungen nicht gerettet werden – Anfang der 1990er Jahre erfolgte der Abriss. Von der legendären „Avus“-Rennstrecke, die mit ihrer berüchtigten Nordkurve nahe am Bahnhof vorbei führte, zeugen noch Spuren inmitten des Autobahndreieckes; hier wartet eine verlassene Zuschauertribüne seit Jahren vergebens auf Publikum, und der alte Zielrichterturm dient heute als Motel. Nahebei befindet sich Berlins größtes „Wellnessbordell“, das voll auf den motorisierten Individualverkehr setzt. In unmittelbarer Nachbarschaft, eingezwängt zwischen ausrangierten Gleisschleifen, trotzen die farbenfroh bepflanzten Parzellen der Kleingärtner der Aufenthaltsfeindlichkeit des Ortes.

Ebenso isoliert wie der Bahnhof, allerdings ohne Umsteigemöglichkeit, ist der Friedhof Grunewald. Vollständig von Gleisen umschlossen ist er nur über eine Brücke zu erreichen, weshalb er bald nach seiner Einrichtung 1892 im Volksmund die Bezeichnung „Toteninsel“ erhielt. Unter den noblen Grabsteinen fanden Künstler wie der Dramatiker und Romancier Hermann Sudermann („Die Schmetterlingsschlacht“), Naturwissenschaftler wie Hans Geiger (Erfinder des Geigerzählers), der Historiker Hans Delbrück („Geschichte der Kriegskunst“) und andere Berliner Persönlichkeiten ihre letzte Ruhestätte. Die meisten wohnten zuvor in der angrenzenden Villenkolonie Grunewald, um die Jahrhundertwende die vornehmste Wohngegend Berlins und Endpunkt der Westwanderung des Großbürgertums auf seiner Flucht vor den wuchernden Arbeitervierteln.

Weit entfernt von Fabrikschloten und Mietskasernen baute sich die Bourgeoisie eine heile Welt zwischen Neoromanik und Jugendstil. Ihre prächtigen Villen beeindrucken noch heute und reizen zu einem ausgedehnten Erkundungsspaziergang. Es lohnt also, am Westkreuz nicht nur um-, sondern ruhig auch einmal auszusteigen! Es wartet keine festliche Begrüßung, aber immer noch ein ganz ‚Großer Bahnhof’.

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