MESSE NORD/ICC

Geschichte zwischen den Verkehrsströmen

von Aleksandra Potapczuk

Die Rolltreppen der Station Messe Nord/ICC befördern den Reisenden auf eine verkehrsreiche Brücke, die eine tiefe Schlucht überspannt. Unten rasen Bahnen und Autos und trennen das idyllische, um 1900 angelegte Wohnviertel am Lietzensee vom Areal des Messegeländes, das vom ICC und vom Funkturm geprägt wird. Von der Brücke kann man ein Gewirr von Verkehrsanlagen überblicken, hier kreuzen sich wichtige Lebensadern der Stadt. Verkehrszählungen zufolge sind das Dreieck Funkturm-Kurfürstendamm und das Dreieck Funkturm-Kaiserdamm die am stärksten befahrenen Autobahnabschnitt Deutschlands. Wenn man genauer hinschaut, entdeckt man in den Zwischenräumen Kleingärten, die bereits vor über hundert Jahren von der Reichsbahn angelegt und zunehmend von den Verkehrsbauten überwuchert wurden. Bis heute sind diese Kolonien sehr beliebt, es gibt Wartelisten und kein Fleckchen Land bleibt ungenutzt.

Inmitten der Verkehrsströme schwebt auf Stützen das Internationale Congress Centrum. Das 1979 nach fünfzehn Jahren Planung und vier Jahren Bauzeit eröffnete ICC gehört noch heute zu den größten Kongresszentren der Welt. Seine kühne Konstruktion, die gigantischen Dimensionen und seine futuristische Formensprache erinnern eher an ein Raumschiff denn an ein Gebäude. Das Kongresszentrum im Westteil der geteilten Stadt war von Anfang an kein reines Funktionsgebäude. Mit seiner formalen und funktionalen Modernität sollte es die Wirtschaftskraft der westlichen Welt symbolisieren und den Anspruchs Berlins als lebendiges, internationales Handelszentrums behaupten. Als Produkt dieser technikgläubigen Zeit ignoriert es den Maßstab des Fußgängers: Der Komplex sollte ausschließlich direkt von der Autobahn über die eine achtspurige Straße und eine neue U-Bahnhaltestelle durch Erweiterung der U1 erreicht werden. Der Anschluss wurde nicht ausgeführt, doch die U-Bahnhofanlage existiert noch heute als eine überdimensionierte Unterführung, die gelegentlich von Hockey spielenden Inlineskatern belebt wird.

Das ICC ist über eine Brücke mit dem denkmalgeschützten Berliner Messegelände verbunden, das sich seit 1924 am heutigen Standort befindet. Noch im selben Jahr wurde der Funkturm errichtet. Er ist täglich für Besucher geöffnet, seine Aussichtsplattform und ein Restaurant bieten einen Überblick über das Gelände und weite Teile Berlins. Man würde hoch oben in diesem Stahlturm alles andere vermuten als gediegene Gemütlichkeit mit gutbürgerlicher Küche, doch genau das erwartet den Gast: bei seichter Musik kann man hier Buffets mit monatlich wechselnden Themen genießen.

Vom Funkturm sieht man auch den Lietzensee mit seinem Jugendstilpark, der sich auf der anderen Seite der Schlucht malerisch windet. Der See liegt lärmgeschützt unterhalb der neuen Kantstraße, die ihn in zwei Teile schneidet. Hier scheint die Zeit vor hundert Jahren stehen geblieben zu sein, und doch geht es nicht altmodisch zu: Im gepflegt bürgerlichen Ambiente wird hier flaniert und gejoggt, es gibt ein Café mit Wasserterrasse und seit neuestem auch einen Senioren-Fitnessplatz. Im Winter kann man Schlittschuh laufen, das anliegende, in den 1950er Jahren gebaute Hotel Seehof und das Café am Lietzensee schenken Glühwein aus. Der See gehört wie die anderen Grunewaldseen zu einer Abflussrinne aus der Eiszeit und wurde um die Jahrhundertwende ausgebaggert und renaturiert, um die Attraktivität des geplanten vornehmen Wohngebiets zu steigern.

Am Park befinden sich viele historisch bedeutsame Gebäude wie das ehemalige Reichs- militärgericht, in dem unter dem NS-Regime mehr als 1400 Todesstrafen unter anderem wegen Landesverrats, Kriegsdienstverweigerung und Spionage ausgesprochen wurden. Das Gericht verurteilte Militärangehörige und Zivilisten aus Deutschland und den besetzen Staaten – es gilt als ein wichtiges Instrument zur Machtsicherung der braunen Diktatur. Nach dem Krieg beherbergte es das Kammergericht West-Berlins, bevor es 2006 im Rahmen des Denkmalschutzes zu einer luxuriösen Wohnanlage umgebaut wurde.


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