RÜCKBLICK

1870-1880: Berlin kommt auf den Hund

von Gernot Schaulinski

"Ortsveränderungen mittels irgendeiner Art von Dampfmaschinen sollten im Interesse der öffentlichen Gesundheit verboten sein. Die raschen Bewegungen können nicht verfehlen, bei den Passagieren die geistige Unruhe, 'delirium furiosum' genannt, hervorzurufen. Selbst zugegeben, daß Reisende sich freiwillig der Gefahr aussetzen, muß der Staat wenigstens die Zuschauer beschützen, denn der Anblick einer Lokomotive, die in voller Schnelligkeit dahinrast, genügt, diese schreckliche Krankheit zu erzeugen. Es ist daher unumgänglich nötig, daß eine Schranke, wenigstens sechs Fuß hoch, auf beiden Seiten der Bahn errichtet werde." So schrieben angeblich die Ärzte eines "Königlich Bayrischen Medizinalkollegiums" um 1835 über die Gesundheitsrisiken des neuen Transportsystems. Der erste Historiker, der sich auf diese Äußerungen bezog, war der preußische Gelehrte Heinrich von Treitschke (Unsere Aussichten, in: Preußische Jahrbücher, Band 44, 1879). Seither hat sich die Forschung erfolglos bemüht, das kuriose Gutachten ausfindig zu machen – laut Nürnberger Verkehrsarchiv hat es niemals existiert. Der Verdacht liegt nahe, Befürworter des Eisenbahnbaus hätten sich hier selbst eine Steilvorlage geschaffen, um ihre Gegner der Lächerlichkeit preiszugeben. Auch der preußentreue Treitschke nutzte das "Gutachten" für eine beißende Kritik am, seiner Meinung nach, rückständigen Partikularismus der süddeutschen Monarchien. Bis heute geistert das Dokument durch die Schulbücher und Politiker zitieren es gerne, wenn sie angebliche Technologiefeindlichkeit anprangern.

Wer allerdings 1870 die ersten Züge auf dem östlichen Abschnitt der im Bau befindlichen Ringbahn beobachtete, konnte den Eindruck gewinnen, dass die bayrischen Medizinalkollegen gar nicht so Unrecht hatten. Zumindest was die Passagiere betraf, schien die Eisenbahnfahrt üble gesundheitliche Konsequenzen mit sich zu bringen. Erschöpfte, lädierte, stöhnende und wimmernde Gestalten drängten sich in den Waggons; nach der Ankunft am Zielbahnhof endete die Reise im Lazarett. Doch die Gründe hierfür lagen nicht auf der Schiene, sondern auf den Schlachtfeldern von Weißenburg bis Sedan. Der Deutsch-Französische Krieg brachte Züge voller verwundeter und erkrankter Soldaten nach Berlin, das in Folge des Sieges schon bald zur Reichshauptstadt aufsteigen sollte. Neben den Kriegsheimkehrern prägten anfangs Viehtransporte das Bild der "Neuen Verbindungsbahn".

Am 17. Juli 1871 ging der erste fertig gestellte Teil der Ringbahn für den Güterverkehr offiziell in Betrieb. Die Strecke führte von Moabit über Gesundbrunnen, Central-Viehhof (Storkower Straße), Stralau-Rummelsburg (Ostkreuz) und Rixdorf (Neukölln) nach Schöneberg. Ausgehend von den Kopfbahnhöfen begann 1872 der Personenverkehr auf dem Halbring. Mit dieser Anbindung sollte die Siedlungstätigkeit außerhalb der Stadtgrenzen gefördert werden. Zu Beginn verkehrten zwischen Schöneberg und Moabit lediglich zwei, später drei Züge. Gleichzeitig endete der Betrieb auf der alten Verbindungsbahn. Rund fünf Jahre später, am 15. November 1877, wurde der westliche Teil des Rings von Schöneberg über Grunewald (Halensee), Charlottenburg (Westend) nach Moabit eröffnet und damit die 37 Kilometer lange Eisenbahnlinie geschlossen. Die Strecke erhielt aufgrund ihrer markanten Form im Stadtgrundriss bei den Berlinern die treffende Bezeichnung "Hundekopf".

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