RÜCKBLICK

1880-1920: Rund um den Wilhelminischen Ring

von Gernot Schaulinski

Zwischen Berlins alter Stadtgrenze und der weit außerhalb liegenden Ringbahn entstand in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg eine neue Welt. Ein breiter Mietskasernengürtel legte sich um das historische Zentrum; die hohen Gebäude standen dicht an dicht mit Seitenflügeln und Hinterhäusern bis weit ins Innere der Straßenblocks gestaffelt. Unter den beiden kaiserlichen Wilhelms errichtet, gehörten zu diesem als "Wilhelminischer Ring" bezeichneten kilometerweiten Neubaugebiet große Teile von Rixdorf (heute: Neukölln), Kreuzberg, Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Gesundbrunnen, Wedding, Tiergarten, Moabit und Charlottenburg. Berlin besaß um 1880 die höchste Bevölkerungsdichte unter allen europäischen Großstädten, sein Wachstum war atemberaubend.

In dieser Zeit erhielt die runde Ringbahnstrecke eine Spitze. Zwischen den heutigen Stationen Südkreuz und Schöneberg wurden zwei Abzweigstellen eingerichtet, von denen aus eine Gleisverbindung zum Potsdamer Bahnhof führte. Die "Südringspitzkehre" ermöglichte von 1881 bis zu ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg eine Ringbahnfahrt vom Potsdamer Platz aus. Fast zeitgleich ging 1882 die auf einem Viadukt quer durch Berlin und seine Vororte geführte "Stadtbahn" zwischen Schlesischem Bahnhof (heute: Ostbahnhof) und dem Bahnhof Charlottenburg in Betrieb. Einen neuen Ausbauschub erlebte der Ring Ende der 1880er Jahre. Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens ließ Preußen die Strecke viergleisig ausbauen. Neue Stationen kamen hinzu, alte wurden abgerissen, erweitert oder versetzt – von der ersten Bahnhofsgeneration blieb fast kein Gebäude erhalten. Diese rasante Entwicklung war Teil eines Gesamt-Berliner Phänomens, das den amerikanischen Schriftsteller Mark Twain bei seinem Besuch in der Hauptstadt stark beeindruckte: "It is a new city; the newest I have ever seen. Chicago would seem venerable beside it; for there are many old-looking districts in Chicago, but not many in Berlin. The main mass of the city looks as if it had been built last week, the rest of it has a just perceptibly graver tone, and looks as if it might be six or even eight months old" (The Chicago of Europe. In: Chicago Daily Tribune, 3. April 1892).

Kurz nach 1900 imponierte die Reichshauptstadt durch ihre enormen Ausmaße. Zwar erstreckte sich ihre Fläche nur über die Hälfte des von der Ringbahn umschlossenen Gebietes, aber ein Kranz von umliegenden Großstädten wie Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg, Neukölln, Lichtenberg und ganz im Westen Spandau, erweiterte Berlin zu einem urbanen Großraum. Der Publizist Hermann Konsbrück schrieb über die grenzensprengende Dynamik der Stadtentwicklung. "Das Tempo des Wachstums ist rasend – beängstigend und begeisternd zugleich. [...] An der Peripherie entstehen in dreihundertfünfundsechzig Tagen neue Stadtteile, wo man vor einem Jahr über Wiesen spazierte. Fabriken – die in der Dunkelheit Lichtfluten ausstrahlen wie riesige Feenschlösser – wachsen aus dem Boden wie auf ein Zauberwort." (Neu-Berlin. In: Der März – Halbmonatsschrift für deutsche Kultur, 7. Januar 1908). Während sich um den Ring herum vieles veränderte, blieb auf den Gleisen alles beim Alten. Die Ringbahn dampfte weiterhin mit ihren kohlebefeuerten Lokomotiven durch dicht besiedeltes Wohngebiet, obwohl der elektrische Zugverkehr bereits erfolgreich auf zwei Vorortbahnen getestet worden war. Dem einflussreichen Kartell der Dampflokomotiven-Hersteller, angeführt von den Berliner Firmen Borsig und Schwartzkopff, gelang es erfolgreich, die Modernisierung bis 1913 zu verhindern. Kurz nachdem das preußische Abgeordnetenhaus mit knapper Mehrheit die Elektrifizierung der Berliner Ring-, Stadt- und Vorortbahn beschlossen hatte, durchkreuzte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges die ambitionierten Pläne.

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