RÜCKBLICK
1940-1945: "Hauptkampflinie S-Bahnring"
von Gernot Schaulinski
Nahe der Station Gesundbrunnen führt die Strecke der Ringbahn durch einen tiefen Burggraben; so scheint es zumindest beim Blick aus dem fahrenden Zug. Hier thront über der Gleisschlucht eine mächtige Betonfestung: der Hochbunker Humboldthain. Trotz seiner Teilsprengung gibt das Bollwerk auch heute noch eindrücklich Zeugnis vom Zweiten Weltkrieg, der von Berlin ausging und die Stadt zum Schlachtfeld machte. Auf den beiden erhaltenen Plattformen standen großkalibrige Flugabwehrkanonen, das Innere bot tausenden Menschen Schutz vor Bombenangriffen.
Im Sommer 1940 erschienen über der Reichshauptstadt erstmals feindliche Flieger. Ein kleiner Verband der Royal Air Force warf wenige Bomben, deren Einschlagsorte zu beliebten Ausflugszielen wurden. Von weitentfernten Bezirken reisten die Neugierigen mit der S-Bahn an – schon bald brauchten sie keine langen Fahrten mehr auf sich zu nehmen, die Bomben kamen zu ihnen. Die ersten Luftangriffe führten bei der Ringbahn zu verschärften Verdunkelungsvorschriften: An den Vorderfronten der Triebzüge wurden schwache Tarnscheinwerfer montiert, während die trübe Innenbeleuchtung für steigende Taschendiebstähle sorgte. Nachts wiesen auf den Stationen lediglich reflektierende Anstriche und matt leuchtende Schilder den Weg. In dieser Dunkelheit kam es häufig zu Unfällen, wenn Reisende beim Einsteigen zwischen die Waggons gedrückt wurden oder vor einfahrende Züge stürzten.
Seit Kriegsausbruch schossen die Fahrgastzahlen der Ringbahn in die Höhe, denn ein nicht enden wollender Menschenstrom zog täglich in die großen Fabriken der Rüstungsindustrie. 1943 beförderte die S-Bahn mehr als 700 Millionen Personen, doppelt so viele wie vor der Elektrifizierung – ein bis heute ungebrochener Rekord. Berlin war damals eine wichtige Rüstungsschmiede, in der massenhaft Panzer und Geschütze für die Wehrmacht produziert wurden, von hunderttausenden Zwangsarbeitern unter oft härtesten Bedingungen. Für den Transport dieser aus ganz Europa Verschleppten gab es separate Waggons, die an die Ringbahnzüge angehängt wurden.
Ab Mitte 1943 bombardierten die alliierten Luftflotten Berlin immer häufiger und heftiger. Besondere Bautrupps aus Pionieren der Wehrmacht und Eisenbahnern standen für Reparaturen an der kriegswichtigen Ringbahnstrecke bereit. Das lebensgefährliche Entschärfen und Bergen von Blindgängern überließ man KZ-Häftlingen oder den Zwangsarbeitern. Ab 1944 wurde der Schienenverkehr mehrfach unterbrochen. Besonders die Bahnhöfe Gesundbrunnen, Beusselstraße, Halensee, Treptower Park und Landsberger Allee erlitten schwere Bombentreffer, ebenso die Südringspitzkehre zum Potsdamer Bahnhof, auf der nie wieder Züge fahren sollten.
Nachdem die Rote Armee Anfang 1945 die Oder erreicht hatte, begannen in der Reichshauptstadt fieberhafte Schanzarbeiten. Eine Reihe behelfsmäßiger Verteidigungsstellungen wurde errichtet, so auch die "Hauptkampflinie S-Bahnring" – gesprengte Brücken dienten dabei als Panzersperren, zusammen gewürfelte Infanterie-Einheiten besetzten die Bahndämme. Als die sowjetischen Truppen am 25. April Berlin einkesselten, begegneten die Einwohner der Bedrohung mit Galgenhumor: "Das Gute an der gegenwärtigen Kriegssituation ist, dass man direkt von der Westfront mit der S-Bahn an die Ostfront fahren kann ..." – Ende des Monats wurde der Schienenverkehr aufgrund der Kämpfe eingestellt. Zwar galten einige Streckenabschnitte für Panzer als unüberwindbar und von hohen Bahndämmen herab konnten die gegnerischen Truppen unter Beschuss genommen werden, doch das Ende des Dritten Reiches vermochte der Ring nicht aufzuhalten. Als am 2. Mai 1945 in Berlin die Waffen endlich schwiegen, bot der "Hundekopf" ein desaströses Bild: Bomben- und Granatschäden an Signal- und Gleisanlagen, zerstörte Brücken und Stellwerke, von Panzern zerfahrene Schienen und eine zusammengebrochene Stromversorgung markierten das vorläufige Ende des Zugverkehrs.