RÜCKBLICK

1980-2002: Von der Schrumpfbahn zum Wedding-Day

von Gernot Schaulinski

Auch 30 Jahre nach Gründung der DDR fuhr die "Deutsche Reichsbahn" (DR) auf den Gleisen Berlins. Warum hieß sie nicht "Staatseisenbahn der DDR" oder "Deutsche Demokratische Bahn"? Die Gründe hierfür lagen im Jahr 1945: Das Potsdamer Abkommen schlug damals die Betriebsrechte für den Berliner Bahnverkehr allein der DR zu, deren Leitung die Sowjetunion bald an ihren deutschen Satellitenstaat übergab. Eine Umbenennung hätte möglicherweise den Verlust der Betriebsrechte zur Folge gehabt. So lebte das untergegangene Reich auf den Schienen fort.

Noch am 1. Mai 1980 waren die Züge der halbierten Ringbahn zum "Kampftag der Arbeiterbewegung" unterwegs gewesen, um wie jedes Jahr mit kleinen DDR-Wimpeln und roten Fahnen auch im Westteil der Stadt "Flagge" zu zeigen. Nur wenige Monate später sorgten Gerüchte über Entlassungspläne bei den West-Berliner Reichsbahnern für Unruhe. Aus Einsparungsgründen sollte der Fahrplan ausgedünnt und der tägliche Betrieb schon um 21.00 eingestellt werden. Als Reaktion darauf kam es am 17. September zum zweiten Eisenbahnerstreik. Neben unkündbaren Tarifverträgen und höheren Löhnen forderten die Beteiligten auch eine freie Wahl von Gewerkschaftsvertretern. Der letzte Punkt barg für die DDR-Führung enorme Sprengkraft, denn genau an jenem Tag gründete sich auf der Danziger Leninwerft die "Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarnosc". Eine Nachahmung im eigenen Staatsbetrieb musste unter allen Umständen verhindert werden. Da es nicht zu Verhandlungen kommen durfte, war die Lage der Streikenden aussichtslos: schon am 25. September 1980 löste sich das Streikkomitee auf. Die Reichsbahn nutze den gescheiterten Protest ihrer Beschäftigten für einen Kahlschlag auf West-Berliner Seite. Gerade mal drei Linien verkehrten alle 20 Minuten im halb stillgelegten Netz; der Betrieb auf dem westlichen Ring ruhte.

Zwei Wochen noch durfte das Personal auf den leeren Bahnsteigen von Gesundbrunnen bis Sonnenallee seine Schichten absitzen, dann rollte eine Kündigungswelle den Schienenstrang entlang. Während viele Reichsbahner zur Deutschen Bundesbahn (DB) wechselten, versank ihr früherer Arbeitsplatz in einen jahrelangen Dornröschenschlaf: zwischen den Gleisen wucherte Unkraut, die Stationen verfielen. Dieser endgültige Niedergang war für eine wachsende Zahl West-Berliner Bürger nicht mehr akzeptabel. Sie begannen sich in Vereinen und Initiativen für eine Wiederbelebung der S-Bahn zu engagieren. Im Wahlkampf um das Abgeordnetenhaus im Frühjahr 1981 nahm das Thema eine herausragende Stellung ein. Nach langen Verhandlungen mit der DR übernahm die Berliner Verkehrgesellschaft (BVG) am 9. Januar 1984 das marode westliche S-Bahn-Netz und betrieb vorerst nur noch zwei Linien weiter – die Öffentlichkeit sprach deshalb auch spöttisch von der "Schrumpfbahn".

Neun Jahre waren seit der Stilllegung der Ringbahn auf West-Berliner Seite vergangen, als am 25. September 1989 an der Station Westend erste Bauarbeiten für die Grundinstandsetzung des Südrings begannen. Unter weitestgehendem Abriss der Altbausubstanz sollten nun Gebäude, Bahnsteige, Gleisanlagen, Stromleitungen und Brücken erneuert werden. Für das folgende Jahr stand auch der Nordring auf dem Modernisierungsprogramm, doch die Ereignisse vom 9. November 1989 überrollten alle Pläne: die Mauer fiel und die Ringbahn konnte wiedervereinigt werden. Im Dezember 1993 ging zunächst der westliche Halbring zwischen Westend und Neukölln in Betrieb. Zum Jahreswechsel übernahm die Deutsche Bahn AG das gesamte Berliner S-Bahnnetz und führte die umfangreichen Bauarbeiten fort. Als am 16. Juni 2002 – offiziell als "Wedding-Day" bezeichnet – der erste Zug von Westhafen über Wedding nach Gesundbrunnen rollte, schloss sich der Ring nach über 40 Jahren Teilung. Tausende begeisterter Berliner nutzten noch am gleichen Tag die Möglichkeit, mit 'ihrer' Ringbahn zwischen den Großstadtwelten auf Reisen zu gehen.

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