BUNDESPLATZ
Spaziergang: Erkundungen im begehbaren Hufeisen
Download der Spaziergangskarte (A4)
von Sven Olaf Oehlsen und Mathis Sommer
Beliebtes Idyll und fast vergessener Szenekiez zwischen Provinz und Prominenz: Anstatt die grün gefliesten Hauptabgänge zur tosenden Bundesallee zu nehmen, gelangt man über die Ostseite der Ringbahnstation Bundesplatz durch altes Gemäuer unmittelbar zwischen die Stuhlreihen der Cafés am ruhigen Varziner Platz.
Vorbei am kleinen Cosima-Filmtheater [1] geht es hinein ins Wagner-Viertel, durch die Brünnhildestraße in Richtung des mittlerweile schmucklosen Cosima-Platzes. Nichts erinnert mehr an die 1904 abgetragene Radrennbahn des „Sportparks Friedenau“; kaum vorstellbar, dass an dieser Stelle ursprünglich der große Schöneberger Gasometer errichtet werden sollte. Die einflussreichen Bewohner der damals vornehmen Landhauskolonie wussten dies zu verhindern, und ihre Domizile, zunehmend bedrängt von mehrstöckigen Bürgerhäusern, verleihen dem Stadtbild heute seinen unverwechselbaren Charakter.
In einem dieser Landhäuser in der Sarrazinstraße 19 sitzt seit 1929 die schlagende Verbindung des Corps Teutonia [2], an der Ecke Albestraße lohnt sich ein Blick nach links: Gut erhaltene Fassaden zeugen von der einstigen Pracht der Mietshäuser; im Erdgeschoss befindet sich eine Kunstglaserei. Die Sarrazinstraße führt auf den Friedrich-Wilhelm-Platz, seit Ende des 19. Jahrhunderts das Zentrum der hufeisenförmigen Stadtanlage des Entwicklers Carstenn. Die Bundesallee folgt heute nicht mehr seiner Symmetrie und stört den Platz empfindlich; einzig der Kirchturm [3] hat seine herausragende Funktion als Point de Vue des Viertels behalten.
Hier beginnt die Niedstraße [4], die Literaturmeile Berlins: Neben Antiquariaten finden sich Gedenktafeln für ihre großen Bewohner, Erich Kästner lebte in Nr. 5, Max Halbe in Nr. 10, Uwe Johnson (ebenso wie der Maler Karl Schmidt-Rottluff) in Nr. 14. Im kleinen Landhaus Nr. 13 wirkte zwischen 1963 und 1996 gar Nobelpreisträger Günter Grass, die Tafel steht freilich noch aus. Am Ende der Niedstraße liegt das Rathaus Friedenau [5], von Hans Altmann im Jugendstil entworfen und bis 1916 für die noch selbständige Landgemeinde errichtet. Um den mächtigen Turm herum und über die Hauptstraße folgt man der Spur der Tafeln (von denen hier nur einige wenige genannt werden können): An den Schöneberger Stadtverordneten und späteren Bundespräsident Theodor Heuss [6] erinnert die Fregestraße 80, Nr. 76 verzichtet auf die Nennung des ehemaligen Bewohners Joseph Goebbels.
Über die Hedwigstraße geht es wieder Richtung Hufeisen, an einem Landhaus mit integrierter Fastfood-Kette [7], Cafés und der jamaikanischen Botschaft vorbei auf den Renée-Sintenis-Platz, der vom ehemaligen kaiserlichen Postamt [8] des Architekten Ludwig Meyer beherrscht wird. Die Handjerystraße bildet den östlichen Bogen der städtebaulichen Figur, über dessen Verlauf sie vielleicht aus Fußgängerperspektive am besten zu erfahren ist. Der westliche Abschnitt, die Stubenrauchstraße, schließt nahtlos an, und immer wieder öffnet sich der Blick nach rechts zwischen stuckverzierten Fassaden auf den Friedrich-Wilhelm-Platz; die kreisförmige Bebauung an der Kreuzung Wiesbadener Straße ist das Pendant zum Sintenis-Platz, an Nr. 47 erinnert eine Tafel an die Gründung der Comedian Harmonists [9].
Am Ende der Stubenrauchstraße empfiehlt sich ein Rundgang über den städtischen Friedhof [10], neben Kriegsgräbern beeindrucken weitere Erinnerungen an Berühmtheiten Friedenaus: Mit etwas Glück wird man am Grab der Dietrich angesprochen und von früheren Nachbarn über sie aufgeklärt; Mutter Josefine von Losh liegt übrigens ganz in der Nähe. Der direkt vom Bahnhof kommende Südwestkorso macht seinem Namen alle Ehre, Cafes und Restaurants geben ihm den Hauch mediterranen Straßenlebens. Inmitten des beliebten Wohnviertels, im Eckhaus Nr. 64, befindet sich seit 1973 eine ambitionierte Kiezbühne für Schauspiel und Musik, das Kleine Theater [11] – mit gerade 99 Sitzplätzen.
Am Adam-Kuckhoff-Platz beginnt mit der Landauer Straße das Rheingauviertel [12], entstanden zwischen 1911 und 1915 durch die Terraingesellschaft Georg Haberlands. Der ausführende Architekt Paul Jatzow hatte große gestalterische Freiheit und konnte sein Prinzip der Gartenterrassenstadt im englischen Landhausstil konsequent umsetzen. Er schuf laut Landesdenkmalamt eines der „stadtbaukünstlerisch bedeutendsten Wohngebiete Berlins“. Sanft ansteigende Vorgärten, Erker und Fachwerkelemente gliedern die geschlossene Bebauung, neben aufwendigen Eingängen finden sich farbige Mosaike griechischer Mythologie und filigrane Pflanzenmotive. Die eingelassene Grünanlage des Rüdesheimer Platzes wird vom Siegfriedbrunnen [13] dominiert: Auf einem Sockel steht, aus Sandstein gehauen, Siegfried als Rossbändiger, flankiert von einer männlichen und einer weiblichen Allegorie der Flüsse Rhein und Mosel.
Im Verlauf der Aßmannshauser Straße gen Norden endet der kompakte Stadtraum; vorbei an einigen Villen (u.a. der Botschaft Gabuns), Schrebergärten und der etwas den Rahmen sprengenden Zahnklinik [14] der Freien Universität (bzw. nach Fusion der Charité) geht es zum Heidelberger Platz. Über einen alten Eingang des mondänen U-Bahnhofes lässt sich der Ringbahnsteig erreichen und gleichzeitig der Verkehrsknotenpunkt umgehen – für einen idyllischen letzten Eindruck. Wer das Kontrastprogramm sucht, den führt ein kleiner Umweg vom Rüdesheimer Platz über die Eberbacher Straße zur Autobahnüberbauung "Schlange", Deutschlands größtem Wohnhaus.
Tourdaten
1. Cosima-Filmtheater | Das letzte Kino Friedenaus, kleines Programmkino von 1942 am Varziner Platz | Sieglindestraße 10 | www.kinokompendium.de/cosima
2. Landhaus des Corps Teutonia | Seit 1929 in Beschlag einer Verbindung, Friedenau war nie ein Arbeiterviertel | Sarrazinstraße 19 | www.teutonia-berlin.de
3. Kirche Zum guten Hirten | Das städtebauliche Zentrum der „Carstenn-Figur“, Kirchmeister ist übrigens Dr. Vicco von Bülow | Friedrich-Wilhelm-Platz | www.vvbuelow.de
4. Niedstraße | Die Literaturmeile Berlins, fast jedes Haus steckt voller neuer und alter Bücher und/ oder Erinnerungen an große Schriftsteller | z.B. www.antiquariat-schomaker.de
5. Rathaus Friedenau | Sitz des Jugendamtes Schöneberg und im Winter Spielstätte des Theater Morgenstern | Breslauer Platz | www.theater-morgenstern.de
6. Wohnhaus Theodor Heuss | "Man kann mit Politik keine Kultur machen. Aber vielleicht mit Kultur Politik." In Nr. 76 wohnte Familie Goebbels | Fregestraße 80 | www.theodor-heuss-stiftung.de
7. Landhaus Subway | Restaurant Nr. 43976, früher kaufte Günter Grass auf dem Wochenmarkt gegenüber seinen Butt | Rheinstraße 66 | www.subway-sandwiches.de
8. Kaiserliches Postamt I. Klasse | Eigentlich sollte an dieser Stelle das Rathaus entstehen, nach wie vor eine Filiale der Deutschen Post | Handjerystraße 33
9. Haus der Comedian Harmonists | Eine Gedenktafel erinnert an die Gründung der berühmten Gesangsgruppe | Stubenrauchstraße 47 | www.comedian-harmonists.de
10. Künstler-Friedhof | Jedem Stadtteil seinen Friedhof, auch auf die nahe Künstlerkolonie um den Barnay-Platz gehen viele Grabsteine zurück | Stubenrauchstraße 43-45 | w3.berlin-friedenau.com
11. Kleines Theater | Früher ein Kino, heute Ort intimer Schauspielerfahrung | Südwestkorso 64 | www.kleines-theater.de
12. Rheingauviertel | Der Erste Weltkrieg verhinderte den Weiterbau der bis heute beliebten Gartenterrassenstadt nach englischem Vorbild | Landauer Straße
13. Siegfriedbrunnen | Monumentale Sandsteinfigur des Bildhauers Carl Cauer von 1911 | Rüdesheimer Platz | www.ruedi-net.de
14. Klinik für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde | Massenuniversität im Villenviertel, manch einer spricht in solchen Fällen von „Bausünde“, noch mit eigener Mensa | Aßmannshauserstraße 4-6 | web.fu-berlin.de/chronik