Karte Spaziergang Neukölln

NEUKÖLLN

Spaziergang: Dorfidylle in der Großstadt

von Max Bach / Übersetzung Dagmar Thorau

 

Der Hauptausgang der S-Bahnstation Neukölln führt direkt auf die Karl-Marx-Straße. Dort lohnt ein Blick unter die S-Bahnbrücke auf die eindrucksvolle historische Stahlträgerkonstruktion aus dem frühen 20. Jahrhundert und die Lichtinstallation „Neuköllner Tor“ [1] von Matthias Friedrich und Roland Stratmann, seit Juli 2008 leuchtender Ausdruck der offiziellen Bemühungen, zuvor vernachlässigte Gebiete Berlins durch Licht und Kunst – und am liebsten: Lichtkunst! – aufzuwerten. Die Installation besteht aus 75 hinterleuchteten Glaselementen, die vergrößerte Photos der Rindenstruktur von Straßenbäumen zeigen, versehen mit Neuköllner Straßennamen, die einen über die Gegend hinausweisenden geographischen Bezug haben – eine Vielfalt, die den Charakter des Bezirkes spiegelt.
Ein Spaziergang entlang der Karl-Marx-Straße in nordwestlicher Richtung führt gemächlich in die drittgrößte Einkaufsmeile Berlins, die weiter oben zwischen den U-Bahnhöfen Karl-Marx-Straße und Rathaus Neukölln schier zu bersten droht. Wer links in die Schierker Straße abbiegt, gelangt zum neobarocken Körnerpark [2]. Von überschaubarer Größe und sorgfältig gepflegt, hebt sich der Park mit seinen Statuen und Wasserspielen, dem grünen Rasen und einer fast ein wenig kitschigen „europäischen“ Anmutung deutlich von seiner unprätentiösen Umgebung ab. Ein Café und eine Kunstgalerie in der Orangerie laden zu einer Pause ein, und bei guter Planung kann man einen der zahlreichen Musik- und Kulturevents erwischen.
Verläßt man den Park über die Jonasstraße, sieht man auf der anderen Straßenseite den südlichen Teil der Thomashöhe [3], eine Grünanlage, die den für Berliner Parks eher üblichen Anblick bietet: verwilderte, unkrautbewachsene Grasflächen, übersät von Zigarettenkippen und Picknick-Müll. Auf dem Weg zurück zur Karl-Marx-Straße findet sich ein anderes Neuköllner Kleinod: der Club Little Stage [4], der alle Arten internationaler Musik auf die Bühne bringt und eine Kultur-Lounge bietet.
Zurück auf der Karl-Marx-Straße ist der aus dem 18. Jahrhundert stammende Friedhof auf der anderen Straßenseite, der Böhmische Gottesacker [5], der sichtbarste Hinweis auf die Ursprünge des Viertels als Heimstatt der böhmischen Glaubensflüchtlinge. Geradezu auf der linken Seite der Karl-Marx-Straße öffnet sich der Karl-Marx-Platz, wo die berühmte Blutwurstmanufaktur [6] seit 1902 bestes Fleisch und traditionelle handgemachte Wurstspezialitäten offeriert. Ein paar Schritte weiter oben an der Karl Marx-Straße gibt es mit dem Künstlerhof Rue Bunte [7] eine malerische Oase im Hinterhof zu entdecken, die mit Ateliers, Open-Air-Theater, Workshops, Musikproberaum und Aufnahmestudio von Künstlern unterschiedlichster Genres bespielt wird.
Am anderen Ende des Karl-Marx-Platzes schließt sich der Richardplatz mit der Bethlehemskirche [8] an, Mittelpunkt der alten böhmischen Siedlung Rixdorf und wegen seiner dörflichen Idylle nicht nur bei historisch Interessierten beliebt. Die mitten auf dem Dorfanger gelegene Rixdorfer Schmiede [9] ist noch in Betrieb und verschafft Besuchern bei zahlreichen Veranstaltungen einen Einblick in das alte Handwerk; im historischen Wohnhaus beherbergt die Schmiede neben einem Frauentreffpunkt auch eine Kunstgalerie. Anwohner und Kinder bevölkern in den wärmeren Monaten den Platz, und groß ist das Aufsehen, wenn eine historische Kutsche über das Kopfsteinpflaster rollt: Seit 1894 vermietet der Fuhrunternehmer Gustav Schöne [10], der auch ein kleines Kutschenmuseum betreut, seine Karossen für Hochzeiten und Beerdigungen, in jüngerer Zeit überdies als Requisite für Filmproduktionen. Wer nach der Blutwurstmanufaktur Lust auf noch mehr Fleisch hat, bekommt im österreichischen Familienrestaurant Louis [11] riesengroße Schnitzelteller oder läßt sich in der Villa Rixdorf [12] nieder, deren internationale Karte auch einige böhmische Spezialitäten bereit hält.
Nördlich des Platzes führt die Richardstraße zu zwei weiteren Sehenswürdigkeiten. Die eine ist der Comenius-Garten [13], ein verwunschener Philosophengarten, der 1995 gemäß den Lehren des 1592 geborenen böhmischen Universalgelehrten gestaltet wurde und den Kindern und Jugendlichen aus der Nachbarschaft inzwischen ein wohlgehütetes kleines Paradies geworden ist. Fast gegenüber vom Garten quer über die Straße liegt in der Kirchgasse 5 ein altes Schulhaus aus dem Jahr 1753, das in zwei Räumen ein sehenswertes Museum [14] zur Geschichte des Böhmischen Dorfes und der Herrnhuter Brüdergemeine in Berlin beherbergt.
Um zurück zur Ringbahn zu gelangen, folgt man von Richardplatz aus der Kirchhofstraße, vorbei am Tanzstudio Marcao Flamenco [15], und biegt links in die Wipperstraße ein. In dieser kleinen Straße finden sich zwei interessante Kunstgalerien: Gönül’s Art [16] und der Kunstsalon Posin [17], letzterer von drei russischen Brüdern geführt, die in ihrer „Galerie der Täuschung“ Reproduktionen weltberühmter Kunstwerke wie die Mona Lisa von da Vinci oder Rembrandts Nachtwache ausstellen. Am Ende der Wipperstraße, dort, wo sie auf die Saalestraße trifft, öffnet sich ein Eingang zur Ringbahn.
Tourdaten

1. Lichtinstallation „Neuköllner Tor“ | Auch wenn der Zahn der Zeit schon zu nagen begonnen hat, die 2008 errichtete Lichtinstallation soll die Vielfalt des Bezirks repräsentieren und ist mindestens einen Blick wert | Unter der S-Bahnbrücke

2. Körnerpark
| Gut gepflegter Park im Neo-Barock-Look aus dem Jahre 1910, beheimatet ein Café und eine Kunstgalerie | www.körnerpark.de

3. Thomashöhe | Dieser Berliner Standardstadtpark zieht mit seinen Rasenflächen, Bäumen und Büschen mehr picknickende und spielende Kiezbewohner an als der schicke Körnerpark | Thomasstraße 27

4. Little Stage | Eine kleine Bühne mit internationalen Acts und Stammrepertoire | Jonasstr. 1 | www.littlestage.de

5. Böhmischer Gottesacker | Dieser Friedhof aus dem 18. Jahrhundert diente als letzte Ruhestätte der böhmischen Flüchtlinge, die sich hier niedergelassen hatten. Noch heute in Benutzung | Karl-Marx-Platz 10

6. Fleischerei Blutwurstmanufaktur
| Traditionell hausgemachte Fleischwaren bester Qualität werden hier seit 1902 verkauft | Karl-Marx-Platz 9-11 | www.blutwurstmanufaktur.de

7. Rue Bunte | Eine kleine Künstlergemeinde organisiert Events und Performances in ihrem Hinterhof | Karl-Marx-Straße 177 | www.ruebunte.de

8. Bethlehemskirche | Im 15. Jahrhundert erbaut, war diese Kirche das Zentrum des böhmischen Lebens in Rixdorf und wurde zuletzt im Jahr 1941 renoviert | Richardplatz 22

9. Rixdorfer Schmiede | Im denkmalgeschützten Ensemble auf dem Dorfanger wird regelmäßig alte Handwerkskunst gezeigt. Das ehemalige Wohnhaus beherbergt eine Kunstgalerie und ein Frauenzentrum | Richardplatz 28 | www.rixdorferschmiede.de

10. Gustav Schöne | Noch eine Rixdorfer Institution: Das Fuhrunternehmen betreut ein kleines Kutschenmuseum und vermietet die Fuhrwerke auch (mit Pferd und Kutscher) | Richardplatz 18 | www.gustav-schoene.de

11. Louis | Ein österreichisches Familienrestaurant, berühmt für seine Wiener Schnitzel-Spezialitäten | Richardplatz 5

12. Villa Rixdorf | Café und Restaurant mit böhmischer und internationaler Küche | Richardplatz 6 | www.villa-rixdorf.com

13. Comenius-Garten | Der verwunschene Philosophengarten wurde1995 gemäß den Lehren des 1592 geborenen böhmischen Universalgelehrten als Geste der Gemeinschaftsheilung und -bildung gestaltet | Richardstraße 35 | www.comenius-garten.de

14. Museum zum Böhmischen Dorf | Das Museum im alten Schulgebäude aus dem Jahr 1753 widmet sich dem böhmischen Dorf und der Geschichte Rixdorfs | Kirchgasse 5 | www.museumimboehmischendorf.de

15. Marcao Flamenco | Flamenco-Tanzstudio, das Lernwilligen die Kunst des Flamenco näher bringt | Kirchhofstr. 7a | www.marcao.com

16. Gönül's Art | Studio, Galerie und Treffpunkt lokaler Künstler für Performances, Lesungen und Kaffeetrinken | Wipperstr. 10 | www.verruecktgruen.blogspot.com

17. Kunstsalon Posin | Drei russische Brüder machen Kunst – ihre eigene und Kopien alter Meister | Wipperstr. 20 | www.kunstsalon-posin.de

Zurück