BEUSSELSTRASSE
Spaziergang: Unterwegs auf der Moabiter Insel zum Westhafen
Download der Spaziergangskarte (A4)
von Ralitsa Domuschieva
"Nächste Station: Beusselstraße." Aussteigen, bitte! Die Ausgangstreppen der Station führen hinauf zur Beusselbrücke, der Blick schweift über die weite Gleislandschaft und bleibt an einem riesigen halbrunden Objekt hängen. Hier befindet sich der "Bauch Berlins" - so wird im Volksmund die Großmarkthalle genannt, die nicht nur die Hauptstadt, sondern auch Brandenburg und die benachbarten Bundesländer täglich mit frischen Lebensmitteln versorgt.
Südlich der Brücke kann in der Sickingenstraße 7/8 die restaurierte Reformwohnanlage [1] des berühmten Warenhaus-Architekten Alfred Messel besichtigt werden. Das Gebäude-Ensemble wurde zwischen 1893 und 1895 als Gegenmodell zu den weit verbreiteten Mietskasernen mit ihren katastrophalen Wohnverhältnissen erbaut. Im berühmt-berüchtigten Beusselkiez entstanden nun Häuser mit weitem Hinterhof, die Innenräume waren großzügig geschnitten, durch hohe Fenster gut zu belüften und hell. Handwerksbetriebe mit all ihren Belastungen wie Lärm und Dreck wurden konsequent ausgesperrt - die großen Industriewerke lagen nah genug.
An der Ecke Sickingenstraße/Berlichingenstraße wurde ab 1905 die AEG-Glühlampenfabrik erbaut und später von Telefunken als Röhrenfabrik genutzt. Wo früher die modernen Technologien produziert worden sind, residiert heute zeitgemäß das JobCenter Mitte in einem Stadtteil, der für seine hohe Arbeitslosigkeit und Armut bekannt ist. Kurz hinter der ehemaligen Glühlampenfabrik erstreckt sich die AEG-Turbinenhalle [2]. Über 200 Meter laufen Besucher hier am bekanntesten Industriebau Deutschlands entlang, der 1909 von Peter Behrens errichtet wurde. Lediglich von schlanken Stahlbindern unterbrochen, reihen sich große Glasflächen aneinander und verschaffen dem damals revolutionären Bau eine bis heute faszinierende Transparenz. Auf dem Fassadengiebel an der Huttenstraße steht noch die alte Aufschrift "AEG Turbinenfabrik" - heute wird hier von Siemens ein Gasturbinenwerk betrieben.
Der Weg führt weiter in die Rostocker Straße und von dort in die Wittstocker Straße. Wie viele andere Straßen im Beusselkiez sind sie relativ schmal und lassen wenig Sonnenlicht herein. Ein paar kleine Läden, ein palästinischer Kulturverein, ein Spiel- und Trinklokal mit comicartigen Hexendekorationen, der filmfördernde Ausbildungsverein "Plattform für urbane Kulturarbeit" [3] und das benachbarte kleine Sexkino [4] zeigen, wo sich hier soziales Leben abspielt. Ein paar Schritte weiter direkt an der Kreuzung zur Beusselstraße ragt die evangelische Reformationskirche [5] empor, die in ihrem Innern schlicht ausgestattet ist. Nach der radikalen Umgestaltung in den 1970er Jahren wurden der Altar und die Sitzbänke entfernt und danach die Gottesdienste durch Musikveranstaltungen ersetzt. Einen echten Blickfang bieten die naiven Darstellungen biblischer Szenen in grellen Farben, gemalt von dem äthiopischen Künstler Alemayehu Bizuneh. Vor dem Gottes-Konzerthaus beginnt die Wiclefstraße, die breiter und viel sonniger als andere Straßen und deswegen bei den Kiezbewohnern für Sonntagsspaziergänge beliebt ist. Auf beiden Seiten reihen sich kleine Läden aneinander, griechische Tavernen [6], eine Anti-IKEA-Restaurationswerkstatt [7] für Möbel und Geräte, ein putziger Kinderladen ebenso wie die kleine angenehme Galerie [8] mit Glaskunst und Kunstlichtobjekten.
Folgt man dann der Oldenburger Straße nach rechts, begegnet einem am Unionplatz eines der wenigen noch existierenden historischen „Café Achteck“-Pissoirs. Der Besuch sei nur Herren empfohlen. Bevor der Spaziergang zum Westhafen weiterführt, lohnt sich ein Blick rückwärts in die Siemensstraße auf eine lange Reihe wunderschöner Pappeln. Die alten Bäume sollen für den Bau eines Gastronomiegroßmarktes auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs Moabit beseitigt werden. Ihr Schicksal ist noch nicht abschließend geklärt; viele Einwohner kämpfen darum, das prägnante Bild ihrer Straße zu retten. Der Weg zum Westhafen führt weiter die Quitzowstraße entlang, wo KFZ-Werkstätten, Glasereien und Umzugsfirmen aufeinander folgen und eine Kulisse für den rasenden mehrspurigen Verkehr abgeben. Weiter über Serpentinentreppen gelangt man auf die Putlitzbrücke. Der Eindruck, dass in diesem Teil Berlins das Versorgungs- und Großhandelszentrum steht, bestätigt auch die benachbarte große Markthalle für asiatische Lebensmittel [11].
Vor dem Eingang des Westhafens auf der anderen Seite der Brücke ist die weiß-blaue Schifferkirche [12] im ehemaligen Ladengebäude nicht zu verfehlen. Am Pförtner vorbei gelangen Besucher auf der linken Seite zur Hafenwirtschaft, wo ein Künstleratelier für Behinderte [13] mit seinen abstrakten Kunstwerken die Aufmerksamkeit erregt. Viele Lagerhallen des Hafens werden heutzutage als Werkstätten und Verkaufsräume von Großhändlern genutzt. Es lärmt, es stinkt und rotiert ganz nach Hafenart, auch wenn nur vereinzelte Schiffe zu sehen sind. Geradezu abenteuerlich mutet die Überquerung der von LKW stark befahren Straße an; ist dies geschafft, steht man direkt vor einem ehemaligen Getreidespeicher, in dessen Innern heute die Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin beheimatet ist. Davor ein kleines, dunkles Backsteinhaus mit der freundlichen Information: "Betriebsfremden ist der Aufenthalt in den Räumen des Badehauses untersagt. BEHALA". Ob es hier auch finnische Sauna und ein türkisches Bad gibt? Wellness im Westhafen? Vielleicht, aber leider nicht für den Ringbahnreisenden. Dann eben gleich in die Welt der Druckerschwärze eintauchen. Die Bibliothek ist zwar öffentlich, doch der ruhigste und leiseste Ort in Berlin, wie es scheint. Egal, ob man nun in alten Zeitungen schmökern möchte (1873/„Börsenkrach!“) oder nicht, es lohnt sich hereinzukommen. Allein das Stöbern in den Postkartenstapeln mit den historischen Zeitungsköpfen oder Anfangsseiten von legendären Berliner Blättern bereitet Freude. Auch die zwei Ansichtskarten vom Westhafen und dem Getreidespeicher selbst könnten das Interesse wecken. Für alle, die sich wegen des Fotografierverbots auf dem Gelände nicht trauen, gibt es hier die Möglichkeit, ein Souvenir vom zweitgrößten Binnenhafen Europas zu erwerben. Das ist doch was!
Tourdaten
1. Reformwohnanlage | Die genossenschaftliche Alternative zum Moabiter Mietskasernenbau, erbaut von dem prominenten Warenhaus-Architekten Alfred Messel | Sickingenstraße 7/8
2. AEG Turbinenfabrik | Im Deutschlands berühmtestem Industriebau werden seit 1909 Turbinen produziert – früher von der AEG, heute von Siemens | Huttenstraße 12-16
3. Plattform für urbane Kulturarbeit | „Für mehr kulturelle und soziale Vielfalt im deutschen Filmgeschäft“ – Visionen sind auch mit wenig Geld zu verwirklichen, verspricht der Verein | Wittstocker Straße 26 | www.platuraev.de
4. Sonjas Filmbar | Sexkino und mehr ... | Wittstocker Straße 2 | www.sonjas-filmbar.de
5. Reformationskirche | 1901 wurde die Kirche als zweite Gemeindekirche für die rasch wachsende Moabiter Bevölkerung erbaut, heute ist sie eine Oase der Stille und Ruhe | Beusselstraße 35
6. Taverna Merkouri | Authentische griechische Gerichte mit viel Ouzo | Wiclefstraße 30 | www.merkouri.de
7. Restaurationswerkstatt | Die Vitrine präsentiert wiederbelebte Geräte voller Zeitlosigkeit – Eintritt in eine andere Welt | Wiclefstraße 24
8. Galerie | Zugleich auch Atelier von zwei Künstlern, die einen ehemaligen Friseursalon mit Lichtkunst und Malerei erfüllen | Wiclefstraße 21
9. Nord-West-Oase | Multifunktionaler Ort – Sportbar, Café, Alt-Berliner Familiengaststätte | Wiclefstraße 17
10. Buchhandlung für Esoterik, Märchen und Anthroposophie | Die kleine Buchhandlung bietet spezialisierte Literatur und gute Beratung. Dazu kommen noch 20 000 Bücher vom Lager | Oldenburger Straße 33
11. Markthalle für asiatische Lebensmittel | Exotischer Großhandel direkt am Hafen | Quitzowstraße 59
12. Schifferkirche | Die Hafenumwandlungen spiegeln sich auch in der örtlichen Kirchengemeinde wieder. Früher auf einem schwimmenden Kahn beheimatet, findet man das Gotteshaus heute auf dem Trockenen direkt am Eingangstor zum Hafen | Westhafenstraße 1
13. imPerfekt | Künstleratelier in der ehemaligen Hafenwirtschaft. Hier können sich Menschen mit Behinderungen kreativ entfalten | Westhafenstraße 4 | www.bwb-gmbh.de
14. Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek | Die umfangreichste Zeitungssammlung deutscher Bibliotheken, seit 1997 im ehemaligen Getreidespeicher | Westhafenstraße 1