Karte Messe Nord/ICC

MESSE NORD/ICC

Spaziergang: Rund um den Lietzensee – grüne Oase in der Stadt

von Dagmar Thorau

Blickt man vom Funkturm aus über die Stadt, sieht man die sichelförmige Wasserfläche mit dem grünen Ufersaum fast unmittelbar zu seinen Füßen im Häusermeer aufglänzen. Wer sich freilich als gewöhnlicher S-Bahn-Flaneur von der langen Rolltreppe am südlichen Ausgang des Bahnhofs Messe Nord/ ICC nur auf Straßenniveau emportragen lässt und Umschau hält, vermag den Lietzensee nicht zu entdecken. Kaum 100 Meter vom verkehrsreichsten Autobahnabschnitt Deutschlands entfernt liegt er in einer Talsenke verborgen. Er ist der nördlichste der zehn Grunewaldseen, die sich vom Nikolassee im äußersten Südwesten Berlins bis hierher ziehen: eine Kette langgestreckter, mit Grundwasser gefüllter Strudellöcher der Schmelzwasserrinnen, die von der letzten Eiszeit gegraben und den Naherholung suchenden Großstädtern 20.000 Jahre später so wertvoll wurden.

Man wende also Funkturm, ICC und Messegelände den Rücken und gehe Richtung Osten wenige Schritte die Neue Kantstraße hinunter bis zur Ecke Dernburgstraße. Nur eine Querstraße weiter an der Herbartstraße gegenüber dem herrlich altmodischen "Pianocafé" [1] lockt ein Abgang, gleich in die grüne Oase hinabzutauchen; doch es lohnt, rechts in die Dernburgstraße abzubiegen. Hier steht linker Hand (Nr. 44-52) eines der wichtigsten Berliner Bauwerke des Expressionismus: 1925-28 wurde die Oberpostdirektion [3] nach Plänen Willy Hoffmanns als gewaltige fünf- bis siebengeschossige Vierflügelanlage errichtet. Weinlaub rankt sich über die weißverputzte Fassade, Fensterrahmen, Sockel und vertikale Gebäudekanten sind mit Terrakottaformsteinen akzentuiert, der südliche Flügel endet in einem polygonalen sechsstöckigen Turm. Ein wenig zurückgesetzt auf dem Grundstück davor findet man das rot verklinkerte, ebenfalls denkmalgeschützte Hedwig-Rüdiger-Haus [2], benannt nach der Sozialreformerin, die das ‚Wohnheim für ledige Reichs-Post-und Telegraphenbeamtinnen’ in den 20er Jahren initiierte – „Drachenburg“ nannte es der bisweilen zur Frauenfeindlichkeit neigende Volkmund.

Folgt man der Dernburgstraße, entdeckt man auf der rechten Seite zwischen den Häusern eine grün gestrichene Pforte (Nr. 35). Wer sie durchschreitet, findet sich in der Kleingartenkolonie der Bahnlandwirtschaft e.V. [4], deren dicht bepflanzte Parzellen sich zwischen Lietzen- und Halensee, zwischen dem Bahndamm der Stadtbahn und der Schneise der A 100 rund um den Bahnhof Westkreuz erstrecken: Von Zäunen und Hecken gesäumte Pfade führen links bis an die Autobahnbrücken, wo die ‚Laubenpieper’ rund um ihre Wochenendhäuschen im Schatten mächtiger Betonpfeiler neben den Blumenrabatten Kürbisse und Kartoffeln, Birnen und Beeren ziehen, getreu der mittlerweile hundertjährigen Bestimmung, dass 30 % als Nutzfläche dienen müssen. Im Hintergrund schimmert silbern das ICC, Vögel zwitschern in den Obstbäumen. Beständig rauscht der Verkehr, „Aba dett hör’n Se jaa nich’ mehr“, erklärt die Unkraut zupfende Dame übern Zaun. Ob man nur einmal kurz in diese für Berlin so typische Welt der Schrebergärten schaut oder sie staunend durchstreift ... früher oder später kehre man zurück zur Dernburgstraße.

In einer sanften Kurve führt sie verkehrsberuhigt an Alt- und Neubauten entlang, bis sie sich zu einem platanenbestandenen Platz öffnet, der von vornehmen Wohnhäusern aus der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts begrenzt wird. Links an der treppengesäumten Großen Kaskade [5] entlang geht es nun hinunter zur südlichen Hälfte des seit 1904 von der Neuen Kantstraße durchschnittenen Lietzensees. 1910 hatte Charlottenburg den 1826 durch Staatsminister von Witzleben angelegten Park erworben. Die Ostseite wurde zur weiteren Bebauung veräußert, der Westteil samt dem Grünstreifen am Ufer vom Gartenarchitekten Erwin Barth gestaltet. Die Stadt setzte zur Umarmung an und umschloss bald Park und See, ohne sie zu erdrücken, die Gegend entwickelte sich zu einer der bevorzugten Adressen Berlins. Noch als 1998/99 die Bonner kamen, legte ihnen eine Broschüre der Berliner Bank nahe, ihr Domizil an dieser „Topadresse der Hauptstadt neben Schauspielern, Künstlern und erfolgreichen Kreativen“ zu suchen. Durch den Park mit seinen geschwungenen Wegen, Wiesen, Spielplätzen, Rabatten und prächtigem alten Baumbestand schlendernd, bemerkt man jedoch keinerlei Prätention –die Anwohner haben weniger eine „Topadresse“, vielmehr die Lebensqualität eines traditionsreichen gutbürgerlichen Viertels gefunden.

Der Nachmittagskaffee oder ein abendliches Bier am Lietzensee gehören dazu: Dem Uferweg folgend unterquert man die Lietzenseebrücke und gelangt zur belebteren Nordhälfte des Sees, an deren Schmalseite ein kleines Café  [8] mit großer Terrasse einfache italienische Speisen, Brotzeitteller und ein verlockendes Kuchenbuffet bietet. Im Winter, wenn der See zugefroren ist, wird den Schlittschuhfahrern heißer Grog offeriert. Hier ist gut sein, und irgendwann geht gegenüber hinterm Funkturm die Sonne unter ...

Den Rückweg zur Ringbahn findet man leicht, indem man am Westufer des Sees ein wenig zurückspaziert und beim großen Blumenbeet mit den beiden Laubengängen an zwei Springbrunnen vorbei hinaufsteigt zur Wundtstraße. Vornehme Altbauten blicken auf den hinter Bäumen nun wieder versteckten See, über die Kreuzung Riehl- und Herbartstraße hinweg läßt man die kleine innerstädtische Idylle hinter sich, bis die Wundtstraße an der nächsten Ecke auf die Brücke über Autobahn und Ringbahngleisen trifft, der Funkturm nicht mehr über Baumwipfeln, sondern hinter der tosenden Verkehrsschlucht steht und der Lärm der Stadt den Flaneur umfängt – die grünen Oasen innerhalb des Rings gehören zu Berlin wie seine faszinierend unwirtlichen infrastrukturellen Knotenpunkte.

Tourdaten

1. Pianocafé | Herrlich altmodische Konditorei mit üppigen Torten, deren Verzehr dreimal in der Woche nachmittags von Klavier-Livemusik begleitet wird | Neue Kantstraße 20

2. Hedwig-Rüdiger-Haus | Das ehemalige Wohnheim für ledige Reichs-Post-und Telegraphenbeamtinnen finanzierte die engagierte Frauenrechtlerin und Sozialreformerin Hedwig Rüdiger in den 20er Jahren über einen Verein und Anteilsscheine der Mieterinnen | Das 1924-25 nach Entwürfen von Otto Spalding errichtete Gebäude steht heute unter Denkmalschutz | Dernburgstraße 58

3. Die ehemalige Oberpostdirektion | Nach Plänen Willy Hoffmanns wurde die gewaltige fünf- bis siebengeschossige Vierflügelanlage 1925-28 errichtet | Das Gebäude steht unter Denkmalschutz, seit 1997 beherbergt es Tochterfirmen der Telekom | Dernburgstraße 44-52

4. Eingang zur Kleingartenkolonie der Bahnlandwirtschaft e.V. | Erstreckt sich zwischen Lietzen- und Halensee, zwischen dem Bahndamm der Stadtbahn und der Schneise der A 100 rund um den Bahnhof Westkreuz | Dernburgstraße 35

5. Die Große Lietzensee-Kaskade am Dernburgplatz | Sie wurde 1913 in Betrieb genommen, um den algengeplagten See in einer der weltweit ersten Gewässerrestaurierungen mit sauerstoffhaltigem Wasser zu versorgen, und 2006 aufwendig saniert | Hier am Südende des Parks begann die Wohnbebauung am Lietzensee, ältestes Mietshaus ist das Wohnhaus Dernburgstraße 2-4 rechts neben der Kaskade | Dernburgplatz

6. Evangelische Kirche am Lietzensee | Ein zwischen den Bäumen verstecktes Kleinod: Auf fünfeckigem Grundriss 1957-59 erbaut, gilt sie als eine der schönsten Kirchen Berlins, entworfen von dem Berliner Architekten Paul G. R. Baumgarten. Die beiden dem Park zugewandten Seiten sind völlig verglast, ein Weg führt den Hang hinauf | „offizieller“ Eingang: Herbartstraße 4-6

7. Ehemaliges Knappschaftshaus | Am Ostufer des schmalen Sees prominent gelegener Klinkerbau unter Denkmalschutz: 1929/30 von Rudolf Hartmann als Verwaltungsgebäude der Knappschafts-Berufsgenossenschaft errichtet, diente es in den 50er Jahren als Meldestelle für die Flüchtlinge, die zu Hunderttausenden aus der Sowjetzone in den Westen kamen. Heute heißt es „Medienhaus“ und beherbergt Büros für Kreative | www.medienhaus-berlin.de

8. Bootshaus Stella am Lietzensee | Auf der großen Terrasse ist es immer voll, weil der sonnige Platz am Wasser mit dem Funkturm am Horizont einfach zu schön ist | Das Selbstbedienungscafé bietet ab 11 Uhr Pizza und Brotzeit, Würste, Kuchen und Eis.

9. Ehemaliges Reichskriegsgericht | In dem 1908-10 erbauten Gerichtsgebäude befand sich von 1936 bis 1943 das Reichskriegsgericht, die höchste Instanz der Wehrmachtsjustiz. Mindestens 1400 Todesurteile wurden hier allein während des 2. Weltkriegs gefällt, am bekanntesten sind die Verfahren gegen die Widerstandgruppe „Rote Kapelle“ 1942. Keiner der Richter wurde nach dem Krieg verurteilt. Später war hier das Kammergericht untergebracht. Jüngst sind die jahrelang leerstehenden Räume von holländischen Investoren in 106 Luxus-Wohnungen verwandelt worden, Säulen, Stuck, Holzverkleidungen und Kronleuchter blieben erhalten. Draußen vor der Tür erinnern Tafeln an die Opfer der NS-Justiz. | Witzlebenplatz 1-2, Witzlebenstraße 4-5

10. Engelbecken | Ein vielgelobtes Restaurant (abends reservieren!) ohne Schnickschnack: In schlichtem Ambiente genießt man die ausgezeichnete Küche, und dafür muss man sich nicht einmal feinmachen ... | www.berlinonline.de/.../restaurants

11. St.-Canisius-Kirche | Das 2002 eingeweihte Gotteshaus aus zwei riesigen Kuben aus Sichtbeton und Lärchenholz, entworfen vom Architektenteam Büttner, Neumann und Braun, lohnen einen Abstecher | Witzlebenstraße 27-29 | www.baunetzwissen.de/objektartikel/Beton_St.-Canisius-Kirche-in-Berlin

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