Karte Spaziergang Wedding

WEDDING

Spaziergang: Auf dem Weg vom Pharmariesen zum Magendoktor

Download der Spaziergangskarte (A4)

von Gernot Schaulinski

Berlins modernster Ringbahnhof schwebt über der Müllerstraße, Hauptverkehrsader des Weddings. Auf ihr führt der Weg nach Süden am Gelände der früheren Schering AG vorbei. Als Orientierungspunkt dient unübersehbar die 15-stöckige Firmenzentrale im schimmernden Blechkleid. Mittlerweile vom nächst größeren Pharmakonzern geschluckt, reicht die Unternehmensgeschichte bis ins Jahr 1851 zurück, als Ernst Schering hier die "Grüne Apotheke" eröffnete. Heute umfasst die Produktionsstätte mehrere Straßenzüge, die zum Pharmacampus [1] entwickelt werden sollen. Geplant sind öffentliche Durchgänge über das Gelände und eine Parkanlage.

Gegenüber dem Firmenkomplex liegt der Weddingplatz [2]. Mit seinen im Vergleich zu den Mietskasernen repräsentativen Bauten war er einst so etwas wie die gute Stube des Arbeiterbezirks. Davon ist nach dem Krieg nichts mehr übrig geblieben. Eine Besonderheit gab es an diesem schmucklosen Ort dann aber doch. Unter dem Asphalt der Müllerstraße befindet sich der U-Bahnhof Reinickendorfer Straße. Bis 1989 ertönte hier die Durchsage "Letzter Bahnhof in Berlin-West", denn von nun an rollten die Züge durch die Geisterbahnhöfe Ost-Berlins. Bevor es an der Kreuzberger Kochstraße wieder zurück in den Westen ging, protokollierten die NVA-Grenzsoldaten zahlreiche "Provokationen", etwa das Werfen von Zigarettenpackungen, Bierflaschen oder Bild-Zeitungen auf die verstaubten Bahnsteige.

Mitten auf dem Weddingplatz versteckt sich hinter Bäumen die Dankeskirche [3]. Ihren Namen verdankt sie einem missglückten Attentat auf Kaiser Wilhelm I. am 2. Juni 1878. Ein junger, psychisch kranker Landwirt feuerte damals "Unter den Linden" auf den Monarchen und verletzte ihn mit 30 Schrotkugeln schwer. Der dicke Mantel und die Pickelhaube bewahrten Wilhelm vor dem Tod. Im Andenken an seine Genesung erhielt 1884 eine neu errichtete Kirche an der Müllerstraße diesen Namen. Der Krieg brachte das Ende für den schmucken Sakralbau; in den 1970er Jahren entstand an seiner Stelle eine schlichte Ersatzkirche, die sich festungsartig hinter einem Erdwall verschanzt. Hier finden Konzerte, Lesungen oder Diskussionen statt, aber so gut wie keine Gottesdienste mehr.

Südlich des Weddingplatzes mutiert die Müllerstraße zur Chausseestraße. Ohne es zu merken, laufen Spaziergänger über die Chausseestraßenbrücke [4], die als solche nicht erkennbar ist. Kein Wunder, die Panke ist nur ein Flüsschen und der "Brückenbogen" wohl eher ein großes Rohr. Dafür überspannt der Sozialbauriegel Chausseestraße 72-75 den kleinen Wasserlauf umso eindrücklicher. Hier beginnt die Wanderung entlang der Panke: unter dem großen Gebäude hindurch führt der Weg in den Südpankepark [5], der auf dem Gelände einer früheren Brauerei angelegt wurde. Bis 1868 standen hier das Ausflugslokal und die Flussbadeanstalt des Gastwirts Liese. An der nach ihm benannten Liesenstraße am südlichen Parkrand befindet sich auf der Fläche eines ehemaligen Grenzübergangs nach Ost-Berlin die Rauminstallation der Künstlerin Karla Sachse: 120 Silhouetten von Kaninchen sind in den Boden eingelassen – es müssen ja nicht immer Schäfchen sein. Die Assoziation zum Schießbefehl im Mauerstreifen drängt sich auf.

Nach Norden hin geht es entlang der Walter-Nicklitz-Promenade [6] den schmalen Pankestrom aufwärts. Standardisierte Neubauriegel der 1950er Jahre prägen die Bebauung, von den berühmt-berüchtigten Weddinger Mietskasernen ist nichts mehr zu sehen. Flach und klar fließt das Wasser heute im schmalen Flussbett, während zu Zeiten der Industrialisierung die trübe „Stinkepanke“ für Geruchsbelästigung sorgte. 1888 spülte ein Hochwasser gar die Fundamente eines Hinterhauses an der Schulzendorfer Straße fort. Vorbei am trockengelegten Stadtbad Wedding [7] mit seinem riesigen Tape-Art-Wandgemälde führt die Wanderung zum schönsten Abschnitt des Panke-Weges. Nach Überquerung der Gerichtsstraße verläuft zwischen Flüsschen und Hinterhofmauern ein schmaler grüner Pfad. Zur Linken befindet sich der Gebäudekomplex der Gerichtshöfe [8] mit Ateliers für fast 70 Künstler, zur Rechten das zugewucherte Ruinengelände der Wiesenburg [9] – ein ehemaliges Obdachlosenasyl. An diesem Ort konnten aus der Bahn geworfene Berliner seit 1896 ungestört von christlichem Missionierungseifer eine Nacht im Anonymen verbringen. Prominente Gäste waren der "Hauptmann von Köpenick" und der Schriftsteller Hans Fallada, dessen Aufsteiger-Roman "Ein Mann will nach oben" in den 1980er Jahren als TV-Serie verfilmt wurde. Schauplatz einiger Szenen war genau dieser Abschnitt der Panke.

Nach dem Unterqueren der Ringbahn endet der Uferspaziergang an der Pankstraße; von dort geht es Richtung Südwesten zurück zum Nettelbeckplatz [10] mit seinem authentischen Kiezpublikum. Durstige einheimische und auswärtige Gäste lassen sich hier in der Eck-Kneipe Magendoktor [11] bei Molle, Futschi und Korn behandeln. Ein echtes Original mit Hertha-Fans, Dart-Profis und Thekenphilosophen. Es geht die Sage, hier werde jeden Abend "750 Jahre Wedding" gefeiert. Wer seinen Spaziergang an diesem Ort ausklingen lässt, hat es auch nicht mehr weit bis zur Ringbahn. Der Bahnhofseingang liegt direkt nebenan.

Tourdaten

1. Pharmacampus | Auf dem Gelände der traditionsreichen Schering AG planen die Entwickler einen öffentlichen Park und Durchgänge für das interessierte Publikum | Müllerstraße 170-171

2. Weddingplatz | Er war einmal die gute Stube des Arbeiterbezirks. Davon ist seit dem Krieg nichts mehr zu sehen.

3. Dankeskirche | 30 Schrotkugeln schlugen 1878 im Kaiser ein. Dass er dieses Attentat überlebte, dafür sagt die Kirche noch heute Dank. Hier finden Konzerte, Lesungen oder Diskussionen statt, aber kaum noch Gottesdienste.
4. Chausseestraßenbrücke | Ausgangspunkt des Spaziergangs entlang der Panke, die unter einem mehrstöckigen Wohnhaus hindurchfließt | Chausseestraße 72 bis 75

5. Südpankepark | Bis 1868 standen hier das Ausflugslokal und die Flussbadeanstalt des Gastwirts Liese. Im südlichen Teil des Parks sind 120 Kaninchen versteckt. Eine Kalksteinskulptur ("Wiedervereinigungsdenkmal") von Hildegard Leest erinnert an die Mauernähe der Gegend | Chausseestraße Ecke Liesenstraße

6. Walter-Nicklitz-Promenade | In den 1950er Jahren mit Mitteln des Marshall-Plans angelegt. Das Erscheinungsbild der Vorkriegs-Panke ist hier vollständig verloren gegangen.

7. Stadtbad Wedding | Kein Wasser im Becken, aber dafür Kunst. Im geschlossenen Schwimmbad sind immer mal wieder Ausstellungen zu sehen. An der Fassade prangt das größte Tape-Art-Gemälde der Welt | Gerichtstraße 65-69 | www.stadtbad-wedding.de

8. Kunst in den Gerichtshöfen e.V. | Eines der größten Kunstquartiere Deutschlands, in den Ateliers findet sich die gesamte Bandbreite an Zeitgenössischem: Fotografie, Malerei, Grafik, Bildhauerei, Keramik, Textile Objekte, Lichtinstallation und Videokunst | Gerichtstraße 12/13 | www.gerichtshoefe.de

9. Wiesenburg | Pittoreske Ruinenlandschaft des ehemaligen Obdachlosenasyls aus dem Jahr 1896. Prominente Gäste waren der "Hauptmann von Köpenick" und der Schriftsteller Hans Fallada ("Der Trinker") | zwischen Gerichtsstraße und Pankstraße

10. Nettelbeckplatz | Nur wenige Meter von der Ringbahnstation und schon mittendrin im bunten Kiezleben. Neben der Brunnenanlage "Tanz auf dem Vulkan" lässt sich der authentische Wedding ganz wunderbar studieren.

11. Kneipe Magendoktor | Der Name ist Programm: hier werden Durst und Kummer mit Hilfe des Thekenpersonals kuriert. Die Kommunikation ist ehrlich und direkt, die Stimmung meist ausgelassen | Reinickendorfer Str. 111

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