Karte Spaziergang Gesundbrunnen

GESUNDBRUNNEN

Spaziergang: Entdeckungsreise zur Quelle

Download der Spaziergangskarte (A4)

von Gernot Schaulinski

Unübersehbar dominiert das 1997 erbaute Gesundbrunnen-Center [1] die Gegend rund um die Station. Die Architektur soll an einen Ozeanriesen erinnern, der Haupteingang erhebt mit seinem Glasturm gar den Anspruch, eine Kommandobrücke darzustellen. Ein Traumschiff ist das Center wahrlich nicht, und der architektonische Vergleich mit der nahen Gartenstadt Atlantic [2] fällt vernichtend aus. Unter diesem maritimen Titel schuf der Architekt Rudolf Fränkel in den 1920er Jahren eine moderne Siedlung nach englischem Vorbild. Angelehnt an die Ideen von Ebenezer Howard, der um 1900 naturnahe und sozial verträgliche Wohnbedingungen propagierte, erhielten die 50 Häuser kleine Vorgärten und ausgedehnte begrünte Hinterhöfe. Die Heidebrinker Straße führt mitten durch die Siedlung und hat sich bei Künstlern als Atelierort etabliert; so nagelt Günther Uecker in einem Ladenlokal seine Bilder.

Auf der breiten Bellermannstraße geht es zur Kreuzung Grüntaler Straße. Bis 1897 verlief auf dem Mittelstreifen die Bahnstrecke Berlin-Stettin durch den dicht bebauten Kiez. Eine große Brandmauerbemalung mit dem Motiv einer historischen Lokomotive und dem Schriftzug „Graf von Itzenplitz" erinnert an dieses städtebauliche Kuriosum. Der Graf war als preußischer Finanzminister dafür bekannt, Lizenzen für den privaten Eisenbahnbau mit der Gießkanne zu verteilen. Aus der ehemaligen Eisenbahntrasse wurde vor wenigen Jahren die parkähnliche Grüntaler Promenade [3] mit Skulpturen und Spielplätzen.

Westlich liegt die Badstraße mit ihren zahlreichen Geschäften. Das Torhaus mit der Nummer 62 birgt tagsüber einen Basar; im großen Durchgang hängen knallbunte Kleider und Hemden, die sich sanft im Wind des vorbeirauschenden Verkehrs wiegen. Hinter dem Gebäude verläuft ein schmaler Pfad zu einer Barackenansammlung unter alten Bäumen. Orientalische Musik dudelt aus den Kassettenrecordern, in den kleinen Hütten sprühen die Funken. Hier kreieren geschickt geführte Schweißdüsen aus Schrottautos neue Fahrzeuge. Die Autohöfe [4] besitzen eine fast dörfliche Atmosphäre mit reizvollen Kontrasten, wenn der Trabbi neben dem S-Klasse-Coupé vor sich hin gammelt.

Vorbei am extravaganten Erkan Möbel Discount [5] an der Ecke Bastianstraße geht es die Böttgerstraße weiter nach Norden bis zum Brunnenplatz, an dem seit 1906 das mächtige Amtsgericht Wedding [6] thront. Vorbild für den Prachtbau war die Albrechtsburg in Meißen; die Architekten suchten den symbolischen Bezug zum „Sachsenspiegel", dem ältesten Rechtsbuch des deutschen Mittelalters. Über mehrere Stockwerke reicht das Foyer mit seinen gotischen Treppenaufgängen und Emporen. Die Cafeteria im Stil der 1980er befindet sich im obersten Stock des Westflügelanbaus. Mit seinem konsequenten Schwarz-Weiß-Rot-Design und der Verspiegelung besitzt der Ort den Charme eines frühen New-Wave-Musikvideos.

Traditionell fernöstlich geht es dagegen im nahen Suteki Bonsai Shop [7] an der Uferstraße zu. Hier können Besucher durch Miniaturgärten lustwandeln und auf chinesischen Lackmöbeln ausruhen. Ganz nah fließt die Panke an den Uferhallen [8] vorüber. Einst Quartier der ersten Berliner Pferdebahnlinie, später für Straßenbahnen und Omnibusse. Beeindruckend ist das 144 m lange Werkstattgebäude von 1929. In dem markanten Ziegelbau befinden sich heute Studios für zeitgenössischen Tanz. Auf der gegenüberliegenden Seite der Uferstraße sind in den früheren BVG-Gebäuden Atelier- und Ausstellungsräume für Künstler entstanden.

Flussaufwärts präsentiert das Luisenhaus [9] seine Prachtstraße zur Badstraße hin. Die frühere Vergnügungsstätte mit Kino- und Festsaal war um 1900 eines der beliebtesten Ausflugsziele der Berliner. Die Fassade zeigt den historischen Pavillion der Gesundbrunnenquelle als Relief. Am Ufer gegenüber steht die alte Pankemühle [10] von 1844, aber sie klappert nicht mehr, denn ihr Rad ging in der Zwischenzeit verloren. Der damalige Müller eröffnete einen kleinen Bierausschank als Nebenverdienst und legte damit den Grundstein für eine Entwicklung, die in einem 30.000 Sitzplätze umfassenden Biergarten zwischen Badstraße und Osloer Straße mündete. Genau an diesem Ort befand sich die Heilquelle, die dem Gesundbrunnen seinen Namen gab. Wo einst Friedrich der Große einen gehobenen Kurbetrieb finanzierte, herrschte schon bald proletarischer Frohsinn. Das zum Teil erhaltene neobarocke Luisenbad mit seinem grandiosen Puttensaal beherbergt heute eine Bibliothek [11] mit modernem Anbau. Auf dem Weg zurück zur Ringbahnstation fällt an der Brunnenstraße Ecke Pankstraße ein kleiner Tempel mit Campanile ins Auge. Die Pfarrkirche St. Paul [12] ist ein echter Schinkelbau, auch wenn sie im Innern die 1950er Jahre hochleben lässt. Schwere Kämpfe Ende April 1945 hatten dem Gebäude zugesetzt, nach Kriegsende erfolgte der Wiederaufbau im Geschmack der Zeit. Die Badstraße weiter nach Süden findet sich im Untergrund der Bunker am Blochplatz [13], dessen Besuch ultimative Ruhe von der lauten und hektischen Oberwelt verspricht. Er ist Teil eines Bunker-Ensembles, das der Berliner Unterwelten e.V. in geführten Touren zugänglich macht. Per Handkurbel können sich die Schutzsuchende im Falle eines atomaren Angriffs filtrierte Frischluft in die Tiefe pumpen – einer der sichersten Orte der Stadt. Nur noch wenige Schritte, und der Spaziergang endet am Ringbahnhof Gesundbrunnen.

Tourdaten

1. Gesundbrunnen-Center | Es lässt sich schwerlich ignorieren; dieses riesige Einkaufszentrum liegt wie ein Sperrriegel zwischen Ringbahnstation und dem Stadtteil Gesundbrunnen. Das Shopping-Angebot wird von Ketten dominiert | Badstraße 4

2. Gartenstadt Atlantic | Vorgärten und grüne Hinterhöfe prägen diese Siedlung aus den 20er Jahren. In der Heidebrinker Straße finden sich Künstlerateliers, darunter auch das von Günther Uecker (Nagelbilder) | Behmstraße Ecke Bellermannstraße | www.gartenstadt-atlantic.de

3. Grüntaler Promenade | Bis 1897 verlief die Bahnstrecke Berlin-Stettin auf dem Mittelstreifen der Grüntaler Straße durch den dicht bebauten Kiez. Die frühere Trasse wurde vor wenigen Jahren zu einer lang gestreckten Grünanlage mit Skulpturen und Spielplätzen umgestaltet | Grüntaler Straße

4. Autohöfe | Aus den kleinen Werkstattbaracken sprühen die Funken, wenn Tote zum Leben erweckt werden. So manches Schrottauto hat nach der Radikalkur hier seinen zweiten Frühling erlebt. Chevy reiht sich an Polo, Trabbi gammelt neben S-Klasse-Coupé | Zugang Badstraße 59 oder 62

5. Erkan Möbel Discount | Lila- und champagnerfarbene Chaiselongues, Diwans mit Samt und Seide, fürs Schlafzimmer barocke Plastikpracht zwischen Versailles und Barbie – diese Schaufenster lassen einen nicht mehr los | Böttgerstraße 7

6. Amtsgericht Wedding | Im Stil der sächsischen Spätgotik gestalteter Prachtbau mit einem beeindruckenden Foyer. Über die Wendeltreppe im Westflügel gelangt man in den obersten Stock, wo sich das Bistro im originalen 1980er Schwarz-Weiß-Rot-Design befindet. Falco könnte hier seine Melange getrunken haben | Brunnenplatz 1

7. Suteki Bonsai Shop | Miniaturgärten verwandeln die Weddinger Fabrikhalle in eine kleine fernöstliche Welt. Auf Lackmöbeln sitzend können Besucher in prächtigen Bildbänden die Kunst der Kleinstbaumhaltung studieren | Uferstraße 8 - 11 | www.suteki.de

8. Uferhallen | Wo einst Pferdebahnen und ihre elektrischen Nachfolger ein Obdach fanden, ist nun der zeitgenössische Tanz eingezogen. Gegenüber dem lang gestreckten eleganten Ziegelbau liegt die frühere Buswerkstatt mit Atelier- und Ausstellungsräumen und dem Café Pförtner | Uferstraße 8-11 | www.uferhallen.de

9. Luisenhaus | Überdekoriertes Eckhaus mit einem Relief der historischen Brunnenanlage. Im Durchgang hängen große Schautafeln zur Geschichte des Geländes. Im Keller des Hinterhauses meinte ein Hobbyhistoriker 2008 die verschollene Quelle wiederentdeckt zu haben. Die Medien bejubelten das „Wunder vom Gesundbrunnen", bis sich herausstellte, dass es sich um Brackwasser handelt | Badstraße 39

10. Pankemühle | Seit Friedrich dem Großen klapperte es hier am rauschenden Bach, heute ist das Mühlrad nur noch aufgemalt. Dahinter liegt die Halle der ehemaligen Tresorfabrik Arnheim, deren Erzeugnisse in den 1920er Jahren von den Gebrüdern Sass gerne geknackt wurden | Höhe Badstraße 40

11. Bibliothek am Luisenbad | Ganz in der Nähe stand das Brunnenhäuschen, das dem Stadtteil seinen Namen gab. Das wunderschöne neobarocke Gebäude des Luisenbades wurde 1995 um einen modernen Anbau ergänzt und beherbergt seitdem die Stadtbibliothek. Architektonisch gelungene Synthese aus alt und neu | Travemünder Straße 2

12. Pfarrkirche St. Paul | Ein echter Schinkelbau, der die 1950er Jahre im Herzen trägt. Während des Krieges schwer zerstört, wurde das Gotteshaus danach äußerlich historisch und innen ganz modern gestaltet. Klassizismus mit nierenförmiger Kanzel | Badstraße 50-51

13. Bunker am Blochplatz | Zwischen den Fahrbahnen der Badstraße ragen zwei hohe Betonkamine aus dem Boden hervor, die im Falle eines Atomkrieges den unterirdischen Bunker mit filtrierter Luft versorgt hätten. Die Anlage kann in geführten Gruppen besichtigt werden | Badstraße Ecke Hochstraße | www.berliner-unterwelten.de

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