SCHÖNHAUSER ALLEE
Spaziergang: Solo Sunny an der Ulbrichtkurve
Download der Spaziergangskarte (A4)
von Rachel Marks
Die Kopenhagener Straße [1], die westlich des Bahnhofs von der Schönhauser Allee abgeht, wurde zu DDR-Zeiten durch den Spielfilm „Solo Sunny" (1980) weit über die Kiezgrenzen hinaus bekannt. Der Film vermittelte ein Bild der pittoresken Hinterhöfe und alternativen Bewohnerschaft des Prenzlauer Bergs. Wer dem Verlauf der Straße parallel zu den Ringbahngleisen nach Westen folgt, bemerkt erstaunlich wenig von der nahen Hauptverkehrsader. Selten fällt der Blick auf das tiefe „Flussbett", durch das der S-Bahnverkehr fließt, oder auf das gegenüber liegende „Ufer", etwa an der Rhinower Straße und auf der Fußgängerbrücke, die an der Sonnenburger Straße die Gleise überspannt. Auf dem weiteren Weg wandert der Blick über das Humboldt Umspannwerk [2], ein wunderschönes Zeugnis der backsteinernen Industriearchitektur, bis hin zu scheinbar namenlosen Cafés [3], die einen Hauch der Wende-Bohème bewahren.
Am westlichen Ende der Kopenhagener geht es nach rechts in die Schwedter Straße und auf den Schwedter Steg, dorthin, wo sich im hinteren Ende des Mauerparks der Moritzhof [4] befindet, ein experimenteller Jugendhof mit Ziegen, Hühnern und Pferden. Der Weg führt nach Norden, die Häuserfronten bleiben zurück, und plötzlich: Wüste! Eine große sandige Fläche, die lediglich von dünnen Schienensträngen begrenzt wird. Eine davon ist die so genannte „Ulbrichtkurve" [5], entstanden auf Ost-Berliner Seite im Dezember 1961. Sie zieht sich in einem weiten Bogen nach Norden, die von Westen kommenden Schienen schaffen ein Spiegelbild – zusammen mit der Ringbahnstrecke bilden sie ein breites Dreieck. Von der Station Schönhauser Allee fuhren die S-Bahnen an der Grenze zu West-Berlin mit mindestens 40 km/h vorbei nach Pankow. Bei dieser Geschwindigkeit wäre ein Sprung Richtung Westen nicht ratsam gewesen.
Auf der langen Fußgängerbrücke, die das Gelände überspannt, beeindruckt der weite Blick, während die rhythmischen Geräusche der sich annähernden und entfernenden Züge ins Ohr dringen. Eine Lücke in der Stadt, ein Niemandsland mitten im Geschehen. Vor über einem Jahrhundert war der harte Übergang zwischen Stadt und Nicht-Stadt ein Motiv der zeitgenössischen Auseinandersetzung. Die Ringbahn bildete damals eine noch mancherorts sichtbare Grenze zwischen Innen und Außen. 1891 schrieb Wilhelm Bölsche von der Gegend:
Nirgendwo studiert sich der Übergang von Stadt und Land so gut wie da draußen, fast genau am Nordpol der Stadt, jenseits des Gesundbrunnens. [...] Straßen sind da, Häuser nicht. In der Ferne wachsen ein paar herauf, große, entsetzlich nüchterne Mietskasernen der schmucklosen Art, fahl wie nackte Kalkberge, mit hundert glanzlosen Fensteraugen, Ungetüme, gegen die gehalten das prosaischste Stück der alten Feldlandschaft, der plumpe Holzkasten einer Windmühle, künstlerisches Ideal wird. [...] Hier ist Berlin auch theoretisch zu Ende. Praktisch beginnt es eigentlich erst weit dort zurück – dort wo der Himmel so grau ist. [...] Wer sich vom Pflaster verirrt, läuft Gefahr, in die unheimliche Schuttmoräne zu geraten, die in Gestalt eines riesigen „Müll-Rings" den ganzen gletscherkalten Leib der Bärin auf der Grenze zwischen Häusermeer und Kornstand umgürtelt: Hügel von zerbrochenem Porzellangeschirr, verrosteten Kesseln, altem Schuhwerk, defekten Weißbierkruken – alles was Berlin nicht mehr brauchen kann, das ganze Strandgut des Straßenozeans, dazwischen hin und wieder auch einmal gelagert eine unheimliche lebendige Gestalt, in Lumpen gehüllt, auch sie Strandgut, wie die Scherben und das alte Eisen.*
Heute dehnt sich die Stadt hoch in den Norden aus, aber der Müll hat hier weiterhin eine Heimat. Als ironische Erinnerung an Bölsches Impressionen vom Berliner Stadtrand stechen die orangefarbenen Müllwagen und riesigen Container des BSR-Geländes am nördlichen Ende des Stegs ins Auge.
Zurück in das Straßenleben der Stadt geht es über die Behmstraße und die Schivelbeiner Straße, durch eine ruhige Wohngegend, wo Rentner und Kids sich im Park begegnen. Kurz vor der Station wird man im winzigen Café Hainz [6] mit einem heißen Kakao und einer kleinen Mahlzeit belohnt.
* Berlin nach der Windrose, Zit. nach: Der Berliner zweifelt immer. Seine Stadt in Feuilletons von damals, hg. v. Heinz Knobloch, Berlin 1977. In: Die Berliner Moderne 1885-1914, Stuttgart 1987. S. 32-33.
Tourdaten
1. Kopenhagener Straße | In der DDR berühmt durch den DEFA-Erfolgsfilm „Solo Sunny" und kurz nach dem Mauerfall ein Zentrum der neuen Ost-Berliner Bohème; die Ringbahn bildet den Hinterhof. Immer noch ein originales Stück Prenzlauer Berg | Kopenhagener Straße | www.umass.edu/defa/films/sunny
2. Humboldt Umspannwerk | Leider nicht öffentlich zugänglich – es sein denn, es wird privat gemietet. Wer Glück hat, erwischt eine temporäre Mode- oder Kunstausstellung und kann so das mächtige Backsteingebäude im Innern erkunden. 1926 vom Berliner Architekten Hans Heinrich Müller erbaut | Kopenhagener Straße 58 | www.humboldtberlin.com
3. Kohlenquelle | Die bescheidene Café-Kneipe gegenüber vom Umspannwerk bietet einen ruhigen Ort für eine Zeitungslektüre beim Kaffee oder ein nachmittägliches Bierchen. Hat seinen Vorwende-Charme bewahrt | Kopenhagener Straße 16
4. Moritzhof | Ein Ort für alternative und naturnahe Freizeitbeschäftigung – die Jugendfarm im Mauerpark hat ihre Wurzeln in der Besetzerszene der unmittelbaren Nachwendezeit. Der für grüne Projekte freigehaltene Mauerstreifen verbindet Geschichte, Natur und Berliner Lebensart auf beeindruckende Weise | Schwedter Straße 90 | www.jugendfarm-moritzhof.de
5. Gleisdreieck und Ulbrichtkurve | Von der langen Fußgängerbrücke, die das Gelände überspannt, schaut man auf eine beeindruckende Wüste. Mittendrin und trotzdem fernab der Stadt | Schwedter Steg
6. Café Hainz | Preiswerte kleine Teller zum Frühstück und Mittagessen in gemütlicher und stilvoller Atmosphäre | Schivelbeiner Straße 7